Gabriele M. Knoll

Handbuch Wandertourismus


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Aspekte! Indem sich der Bürger des späten 18. Jahrhunderts herausgeputzt im Sonntagsstaat mit seiner Familie auf den Weg macht, ahmt er selbstbewusst herrschaftliches Freizeitverhalten nach und liegt in seinem Naturverständnis noch an der Spitze eines neuen Trends. Der Stadtbewohner, der in seinem beruflichen Alltag eher weniger mit der Natur verbunden ist, entdeckt um 1800 die nähere Umgebung, seine Heimat, die er mit Ausflügen, Picknicks, Landpartien und Spaziergängen erkundet (vgl. a. a. O., S. 15).

      In der heutigen Wanderforschung wie -praxis ist der Spaziergang ebenso ein Thema; man unterscheidet dabei zwischen zwei Varianten der kürzeren Fußtour, dem „urbanen Spazierbummeln“ und dem „Spazierwandern“. Wanderexperte Brämer definiert Spazierwandern als „wanderähnliche Spaziergänge von im Schnitt etwa 2 h Dauer und 5 km Länge – mit einer Spanne von 3 bis 7 km bei fließendem Übergang. […] Damit grenzt sich Spazierwandern eindeutig vom urbanen Spazierbummeln, aber auch vom rustikalen Wandern ab. Die Strecke entspricht gerade noch der lockeren Vorstellung vom Spazieren, eine vorzugsweise naturnahe Strecke vermittelt eine gewisse Wanderatmosphäre.“ (wanderforschung.de, 4/2015, S. 11) Hintergründiges und Praxisorientiertes zum aktuellen Spazierwandern bietet das → Kap. 2.1.

      ♦ Literatur

      BRÄMER, R. (2015): Spazierwandern. Das kleine Wandererlebnis zwischendurch. Oder: Die anspruchsvolle Alternative für Spaziergänger. Wanden als Natur- und Selbsterfahrung. Wanderforschung.de 4/2015

      BUTTLAR, A. v. (1989): Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. DuMont Buchverlag, Köln.

      KÖNIG, G. M. (1996): Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850. Böhlau. Kulturstudien, Sonderband 20, Wien/Köln/Weimar.

      UERSCHELN, G.; KALUSOK, M. (2001) Kleines Wörterbuch der europäischen Gartenkunst. Reclam, Stuttgart.

      1.3 „Aus grauer Städte Mauern“ vor allem in die Berge – Wandern als neue Freizeitbeschäftigung für Bürger wie Arbeiter und als Protest der Jugend

      Gründerzeit, industrielle Entwicklung, Landflucht, beengte und ungesunde Wohn- und Lebensbedingungen in der Stadt, Arbeitszeiten von zwölf Stunden und mehr an sechs Tagen die Woche etc. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert und dem Beginn des 20. Jahrhunderts wird der Drang hinaus in die Natur in der arbeitsfreien Zeit erstmals zu einer Massenbewegung. Doch von einem gemeinsamen „demokratischen“ Strom ins Grüne kann keine Rede sein: Bürger und Arbeiter suchen getrennt ihre kurzzeitige Erholung in der Natur, selbst die Trennung der Geschlechter in unterschiedlichen Vereinen gehört oftmals noch dazu. Junge Wanderfreunde schließen sich auch lieber mit Gleichgesinnten ihrer Altersgruppe zusammen.

      Die Gattung der Wanderlieder, die schon von der romantischen Naturschwärmerei unter freiem Himmel profitierte, bekam nun ihre über Generationen bekannten – heute eher auf einer roten Liste stehenden – zur Allgemeinbildung gehörenden Lieder, wie zum Beispiel „Aus grauer Städte Mauern ziehen wir durch Feld und Wald“, „Wenn die bunten Fahnen wehen“ oder „Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen, steigen dem Gipfelkreuz zu“. Beim Wandern oder abends am Lagerfeuer gesungen zur Klampfe alias Gitarre waren sie fester Teil der Wanderkultur und der damit verbundenen Geselligkeit.

      In dieser Pionierzeit der Wander- und Bergvereine im späten 19. Jahrhundert entstehen bereits die Wanderunterkünfte der „ersten Generation“ und die ersten Wander- und sogar ausgewiesenen Fernwanderwege. Aus den Anfängen des Schulwanderns geht 1909 in Deutschland die Idee der Jugendherbergen hervor.

      1.3.1 Die Alpenvereine

      Der erste Alpenverein wurde fern der Alpen gegründet; bedenkt man jedoch, dass die Briten die Weltmeister des Reisens im 19. Jahrhundert waren, ist es wiederum nicht verwunderlich, dass man 22. Dezember 1857 in London mit dem Alpine Club den ersten Bergsteigerverein der Welt aus der Taufe hob. Wer – natürlich nur männlichen Geschlechts – eine respektable Liste von Bergbesteigungen aufzuweisen hatte, konnte in den exklusiven Kreis aufgenommen werden. Damen konnten wegen ihrer geschlechtsbedingten physischen und psychischen „Defizite“ in diesen Kreis nicht aufgenommen werden. Daraufhin gründeten die Damen, darunter auch Ehefrauen von Herren des Alpine Clubs, 1907 natürlich auch in London den Ladies’ Alpine Club. Erst im Jahre 1975 waren die bergsteigenden Herren mental soweit, dass sie auch gipfelstürmende Damen in ihren Verein aufnehmen konnten; es hatte sich nun eine Mehrheit für eine Vereinigung des Ladies’ Alpine Club mit dem Alpine Club gefunden.

      Die Absicht dieser Vereinsgründung war es, den Mitgliedern einen geeigneten Ort für Zusammenkünfte zu geben, wo sie sich zur Vorbereitung schwierigerer Bergtouren treffen und austauschen, sowie Karten und Bücher aus der im Aufbau befindlichen Vereinsbibliothek zurate ziehen konnten. „The members will occasionally dine together at their own expense, but the funds of the Club will be made available when on suitable occasions the Club is favoured by the presence of geographical explorers, or by that of other guests of celebrity. First circular concerning the Alpine Club, 1857.“ ( www.alpine-club.org.uk/alpineclub/ objectives.htm) Aus nachvollziehbaren praktischen Gründen wählte der Alpine Club anfangs Hotels zu seinem Vereinssitz.

      In den Anrainerstaaten der Alpen begann ab den 1860er Jahren die fällige Gründungswelle: 1862 entstand der Österreichische Alpenverein, 1863 folgten der Schweizer Alpen-Club und der Club Alpino Italiano (noch unter dem Namen Club Alpino di Torino), 1869 der Deutsche Alpenverein und 1874 der Club Alpin Français. 1902 bildete sich jenseits des Großen Teichs der American Alpine Club.

      Die drei Studenten Paul Grohmann, Edmund von Mojsisovics und Guido von Sommaruga gründeten 1862 in der Akademie der Wissenschaften in Wien den Österreichischen Alpenverein. Ort und Name der Beteiligten deuten schon an, dass es kein Verein für „Jedermann“ sein sollte. Man verstand sich jedoch als ein vielseitiger Kulturverein, der die Erforschung des Alpenraums, seine Kartierung, das Sammeln wissenschaftlicher Literatur über das Hochgebirge zu seinen wichtigsten Arbeitsgebieten erklärt hatte. In dieses Konzept gehörten auch die Weiterbildung der Mitglieder in Wien durch wissenschaftliche Vorträge, das Herausgeben von Jahrbüchern, Mitteilungen sowie topographischer Karten und schließlich auch die Gründung eines Museums.

      Die Aktivitäten der Wiener Akademiker gingen zahlreichen österreichischen Bergfreunden an ihren mehr praktisch orientierten Interessen vorbei und sie gründeten gemeinsam mit deutschen Bergsteigern 1869 in München den Deutschen Alpenverein. Dieser schrieb sich die touristische Erschließung „Deutschen Alpen“ – sprich: der Ostalpen – auf die Fahnen. Die praktische Arbeit im Hochgebirge leisteten die Sektionen des DAV, die sich in den Städten des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns schnell gründeten. Im ersten Jahr entstanden Sektionen neben München beispielsweise in Frankfurt, Leipzig, Heidelberg, Salzburg, Innsbruck und Bozen. Die Sektionen engagierten sich im Wege- und Hüttenbau, bildeten Bergführer aus und setzten sich für die Belange der lokalen Bevölkerung in den Alpen ein (vgl. http://www.alpenverein.de/der-dav/geschichte-des-dav_aid_12067.html). Unverkennbares Zeichen des Engagements der Alpenvereinssektionen sind bis heute viele Berghütten mit Städtenamen, wie zum Beispiel die Bremer Hütte oder das Kölner Haus.

      Für die Schweizer Bergfreunde war die Förderung der wissenschaftlichen und topographischen Erschließung ihrer Alpen Anlass, 1863 in Olten den Schweizer Alpen-Club zu gründen. Bewusst stellte man sich damit in einen Gegensatz zum Alpine Club in London, dem die sportliche Leistung der Gipfelbesteigungen vorrangig war (vgl. Perfahl (1984), S. 82). Einigkeit herrschte doch über den Ausschluss des weiblichen Geschlechts aus dem Verein: Sogar erst 1979 schaffte Mann die Vereinigung mit dem 1918 gegründeten Swiss Ladies’ Alpine Club!

      Am Beispiel des 1874 gegründeten Club Alpin Français, der seit 2004 der traditionsreichste Teil der FFCAM (Fédération française des clubs alpins et de montagne) ist, lässt sich deutlich ablesen, dass sich ein Alpenverein heute nicht mehr ausschließlich für die Interessen von Bergsteigerinnen und Bergsteigern einsetzt, sondern das gesamte Spektrum der sportlichen Aktivitäten und des Naturerlebnisses im Alpenraum zum Arbeitsfeld erklärt. Alle Variationen des Wanderns, selbstverständlich für alle Zielgruppen – ohne Unterschied von Geschlecht, Alter