Christina Reichenbach

Psychomotorik


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Leibeserziehung und Gymnastik,

      • Rhythmik sowie

      • der Sinnes- und Bewegungsschulung

      (Hölter 1993; Irmischer 1989; Seewald 2002).

      Im Folgenden werden aus den genannten Bereichen ausgewählte Personen und ihre Einflüsse vorgestellt, die als Grundlagen bzw. Wurzeln psychomotorischer Entwicklungsförderung anzusehen sind.

      Leibeserziehung und Gymnastik

      Gymnastik kann als eine Form der Leibeserziehung angesehen werden, welche die Schulung der Bewegung durch Entwicklung, Steigerung und Erhaltung der Kräfte des Körpers zur Aufgabe hat. Einzeln oder in Gruppen werden grundlegende körperliche Eigenschaften (z. B. Kraft, Beweglichkeit, Lockerheit) und allgemeine koordinierte Bewegungsformen durch Gehen, Laufen, Hüpfen, Federn, Springen und Schwingen in harmonisch gestalteten Bewegungsabläufen entwickelt. Im Mittelpunkt stehen dabei die Funktionalität des Körpers, der Ausdruck des Seelischen sowie die anatomische Betrachtung des Körpers.

      Als Vertreter werden insbesondere Delsarte, Mensendieck, Gindler sowie Gaulhofer genannt (Irmischer 1989; Seewald 2002).

      François Delsarte (1811–1871) war ein französischer Schauspielpädagoge, Sprecherzieher, Musiker, Sänger, Komponist und Bewegungspädagoge. Nach einem Studium zur Gesangsausbildung war er vorwiegend an der Bühne (Oper und Theater) tätig. Da ihn insbesondere die Verbindung zwischen Musik, Bewegung und → Emotion beschäftigte, und dies zu seiner Zeit entgegen der eher unnatürlichen Bühnenkunst stand, wird ihm eine Wiederentdeckung der Beziehung zwischen körperlicher und seelischer Bewegung zugeschrieben. Er stellte zu seiner Zeit neue Schönheitsgesetze der Bewegung auf und trat für einfache und natürliche gymnastische Bewegungsformen und körperliche Ausdrucksbewegungen 15sowie für entsprechende legere Kleidung ein. Bühnentanz und Ausdruckstanz wurden maßgeblich durch ihn beeinflusst.

      Bess Mensendieck (1864–1958) gilt als Wegbereiterin der Krankengymnastik und legte ihren Schwerpunkt auf Veränderungen der Frauengymnastik. Die amerikanische Ärztin beschäftigte sich mit Form- und Haltungsproblemen und entwickelte die Mensendieck-Gymnastik, deren Grundlage die Analyse der menschlichen Bewegung sowie die Verknüpfung mit der Körperarbeit ist. Ihre Schüler sollten ihren eigenen Körper detailliert kennenlernen und dies in viererlei Hinsicht: architektonisch (Skelettkenntnis), anatomisch (Muskel- und Gelenkkenntnis), physiologisch (Muskelfunktionen) und mathematisch (Gesetze, nach denen Bewegungen entstehen) (Seewald 2002). Für Mensendieck war zudem das Erkennen der Schönheit in den Bewegungen wichtig, und sie lehrte, wie Frauen notwendige Aufgaben im Haushalt entspannter und mit einem Minimum an Anstrengung verrichten können. Seewald betont die dreifache Relevanz der Arbeiten von Mensendieck für die Psychomotorik: „Die Bedeutung des Körpers mit seiner impliziten Normativität (a), den Bezug zur normalen alltäglichen und gesunden Lebensführung (b) sowie die geschlechtsspezifische Ausrichtung (c)“ (2002, 30).

      Elsa Gindler (1885–1961) gilt als Wegbereiterin der konzentrativen Bewegungstherapie (eine körperorientierte, psychotherapeutische Methode, die Wahrnehmung und Bewegung als Grundlage von Erfahrung und Handeln nutzt). Sie entwickelte ein eigenständiges Gymnastiksystem, das heute noch in den USA, in Israel und in einigen europäischen Ländern Einfluss im Rahmen der Gymnastiklehre hat. Zudem entwickelte Gindler eine ästhetische künstlerische und allgemeine pädagogische Erziehung (Ludwig 2002). Für sie waren Atmung, Entspannung und Spannung wichtige Mittel ihrer Arbeit (Seewald 2002). Dabei stand das Empfinden des eigenen Körpers als hohes Ziel im Mittelpunkt: Die Schüler sollten sich über jeden Muskel und auch die kleinste Veränderung im Körperverhalten bewusst werden; zudem wurden die Gefühle und Gedanken, die durch Bewegung bewusst wurden, reflektiert (Ludwig 2002). Gindler arbeitete eng mit dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby (1889–1964) zusammen, der unter anderem über die Bedeutung von Verhalten für Wahrnehmungsvorgänge forschte. Seewald sieht einen Bezug zur Psychomotorik „im weiteren Sinne im Zugang zu einem ganzen Spektrum prozesshafter Körper- und Bewegungsarbeit“ sowie in der Betonung der → Leiblichkeit (2002, 31).

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      Karl Luitpold Gaulhofer (1885–1941) studierte Naturgeschichte, Mathematik und Turnen. Er arbeitete u.a. als Referent für körperliche Ertüchtigung im österreichischen Unterrichtsministerium. Gaulhofer wurde in seiner Arbeit von Bess Mensendieck und dem ungarischen Tänzer, Choreografen und Tanztheoretiker Rudolf von Laban (1879–1958) beeinflusst und entwickelte das „natürliche Turnen“, welches das damalige Schulturnen ablöste. Das „natürliche Turnen“ wandte sich gegen das als unnatürlich empfundene Ordnungs-, Haltungs- und Freiübungsturnen der Kaiserzeit. „Natürlich” bezog sich dabei zum einen auf die Forderung nach mehr Leibeserziehung in der freien Natur und zum anderen auf ein neues Bewegungsprinzip, verbunden mit einer veränderten methodischen Sichtweise: Die natürliche Bewegung betonte den flüssigen, ganzheitlichen Ablauf aus einem einheitlichen Impuls heraus, gemäß den Bewegungsgesetzen des menschlichen Körpers. Dem natürlichen Turnen ist die erstmalige Ausprägung eines spezifischen Schulturnens für Grundschulkinder zu verdanken, das sich an den physiologischen und psychologischen Bedürfnissen des Kindes orientiert. Natürlichkeit und Kindgemäßheit waren wichtige Prämissen der körperlichen Erziehung, in der das Kind und nicht die Inhalte die Arbeit bestimmen sollte (Hammer 2004). Gaulhofer arbeitete eng mit der österreichischen Turnpädagogin Margarete Streicher (1891–1985) zusammen und verfasste mit ihr das Buch „Grundzüge des österreichischen Schulturnens“.

      Rhythmik

      Einen wichtigen Einfluss auf die Psychomotorik in Deutschland hat die → Rhythmikbewegung – d.h. Vertreter, die sich mit der → Rhythmik wissenschaftlich und praktisch auseinandersetzen – genommen. Insbesondere in den frühen Arbeiten von Kiphard wurde der → Rhythmik bzw. der rhythmischen Erziehung eine fundamentale erzieherische Bedeutung beigemessen (Seewald 2002; Hünnekens / Kiphard 1960). Als Bezugsquellen sind vor allem Jaques-Dalcroze, Bode, Medau, Feudel, Scheiblauer, Pfeffer und Frostig zu nennen.

      Emile Jaques-Dalcroze (1865–1950) entwickelte nach und nach die rhythmische Gymnastik (Rhythmik-Lehre) und strebte als Erster eine künstlerische Gymnastik an. Er studierte Komposition, Musik und Schauspiel und hatte eine Professur am Genfer Konversatorium, 17ehe er in Hellerau bei Dresden eine Schule leitete. Der österreichische Musikpädagoge vertrat die Ansicht, dass der Körper der Musik und dem → Rhythmus untergeordnet werden sollte. Demnach dienen Körper und Bewegung der Darstellung und Verkörperung der Musik und haben ihr zu gehorchen. Seine Devise war: nicht zum → Rhythmus erziehen, sondern den → Rhythmus selbst zum Erzieher werden lassen (Irmischer 1989; Seewald 2002). Durch die Körper-Rhythmik sollten Gestalt und Wesen der Musik erlebt und dadurch gleichzeitig alle seelisch-schöpferischen Kräfte gelöst und gesteigert werden. Nach Seewald „hat der ‚Geist von Hellerau‘ eine große Wirkung entfaltet, die sich auch auf die Psychomotorik ausgewirkt hat“ (2002, 27).

      Rudolf Bode (1881–1970) gilt als Schöpfer und Vater der rhythmischtänzerischen → Ausdrucksgymnastik. Im Gegensatz zu Jaques-Dalcroze sah Bode → Rhythmus als „Urphänomen des Lebens“ an, also nicht vom Menschen gemacht, sondern dem Menschen innewohnend (Seewald 2002). Ein Wechsel von Anspannung und Entspannung stellte für Bode ein wesentliches rhythmisches Prinzip dar. Sein Ziel war es, „Körper und Bewegung von der Vorherrschaft des Willensaktes“ zu befreien (Seewald 2002, 28). Er wollte eine Körperschulung, welche den ursprünglichen Fluss der Bewegung mit Hilfe der Musik wieder herstellt (Ludwig 2002). Bereits 1911 gründete Bode die Bode-Schule für Rhythmische Gymnastik in München, welche heute die älteste Lehranstalt dieser Art in Deutschland ist.

      Hinrich Medau (1890–1974), Musiker und Lehrer, lehnte sich an Jaques-Dalcroze und Bode an und schuf unter Hinzunahme von Handgeräten (z.B. Bälle, Seile oder Klang- und Rhythmusinstrumente) die heutige Form der deutschen Gymnastik. Für ihn waren eine organisch fließende Bewegung, die den gesamten Körper erfasst, sowie Schwingungen und Federungen in rhythmischem Wechsel von Anspannung und Entspannung bedeutend. Eine improvisierte rhythmische Bewegungsbegleitung am Klavier ist dabei unterstützend für die Bewegungsausführungen. Seine Gymnastikmethode ist zwischen Leistungssport und Ballett angesiedelt. Er gründete 1929 in Berlin eine Schule für Gymnastik, die seit den 1950er Jahren in Coburg fortbesteht und international bekannt ist. Medau „darf