Christina Reichenbach

Psychomotorik


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zu dieser Zeit vorherrschende medizinisch-psychiatrische Sichtweise von Behinderung (Eggert et al. 2007). Die Debatte, ob Entwicklungsbeeinträchtigungen „angeboren“ und damit stabil oder ob sie „umweltbedingt“ und damit veränderbar sind, besteht zum Teil noch heute. Von Kiphard wurde einerseits der Gedanke der Entwicklungsförderung durch Erziehung und andererseits speziell der Einbezug der Sinne für die psychomotorische Förderung übernommen.

      Edouard Seguin (1812–1880) war ein französischer Pädagoge und Mediziner. Als Schüler von Itard griff er dessen Methoden auf und ergänzte bzw. verfeinerte diese. Seguin wies auf die Bedeutung einer differenzierten Sinnes- und Bewegungserziehung als Grundlage der individuellen Entwicklung hin. Als Voraussetzung für eine gezielte Förderung verlangte er die Analyse psychologischer und physiologischer 22Voraussetzungen der Patienten und wurde damit zu einem Wegbereiter der Diagnostik. Er entwickelte abgestufte Übungen zur Entwicklung der → Motorik und trainierte die Sinneswahrnehmungen. Hierzu erfand er eigene Materialien, z. B. Formenbretter und die Balancierschaukel. Seguin sah in Itard den Begründer seines Konzeptes der „Physiologischen Erziehung“ (Irmischer 1989). Dieses differenzierte Konzept einer Persönlichkeitsbildung umfasste fünf Bereiche:

      1. Persönlichkeitsaspekt,

      • Sinnlichkeit

      • Geist

      • Moral

      2. Lebensäußerungen,

      • sinnliche Dimension äußert sich in Aktivität (Psychomotorik)

      • geistige Dimension äußert sich in der Intelligenz

      • moralische Dimension äußert sich im Willen

      3. Ausdrucksformen der Lebensäußerungen,

      • Aktivität zeigt sich in → Motilität und

      • Aktivität zeigt sich in → Sensibilität

      4. Erziehungsbereiche,

      • Motilität bezieht sich auf Muskelerziehung

      • Sensibilität bezieht sich auf die Erziehung der Sinne

      • Intelligenz zieht eine Erziehung des Intellekts nach sich

      • Persönlichkeitserziehung ist eine Folge des Willens

      5. Erziehungsziele,

      • Muskelerziehung und Erziehung der Sinne zielt auf ein Erfassen der realen Welt ab

      • Erziehung des Intellekts hat das Erfassen der abstrakten Welt als Ziel

      • Selbstentfaltung und Vergesellschaftung ist die Folge der Persönlichkeitserziehung

      Mit der Begründung der „Physiologischen Erziehung“ nach Seguin wurden wesentliche Voraussetzungen geschaffen, welche in der Psychomotorik auch heute wiederzufinden sind (Irmischer 1989).

      Maria Montessori (1870–1952), die Naturwissenschaften und Medizin studierte, arbeitete in einer psychiatrischen Klinik und übernahm später die Leitung eines Kinderhauses, in welchem sie mit behinderten und nicht behinderten Kindern arbeitete. Sie entwickelte eine eigene 23Methode zur Unterrichtung von Kindern mit Behinderung, welche sie später auf Kinder ohne Behinderung übertrug. Die Italienerin stellte die Erziehung der Sinne und der Bewegung in den Vordergrund. Aus ihrer Sicht ist die Erfahrung und nicht das Gedächtnis für die Erziehung entscheidend. Montessori übernahm Sinnesmaterial von Seguin und entwickelte es weiter (Irmischer 1989). Das systematisch aufgebaute Arbeits- und Trainingsmaterial sollte dazu dienen, dass ein Kind eigenständig mit ihm hantieren kann und dass es seine Leistungen selbst überprüfen kann. Montessori legte viel Wert auf Selbsttätigkeit und Selbstlernen. „Ihre Vorstellung war, dass Kinder selbst genügend Kraft und Interesse besitzen, sich mit ihrer Welt konstruktiv auseinanderzusetzen und selbstständig und selbsttätig zu lernen, ohne die leitende und eingreifende Hand des Erwachsenen zu benötigen“ (Thesing 2001, 149). Montessori lehnte das kindliche (spontane) Spiel als unnütze Tätigkeit ab. Sie ging davon aus, dass ein Kind sich ohne Hilfe Erwachsener genügend konzentrieren und zu Lernerfolgen kommen kann, wenn es sich für einen Gegenstand, eine Sache, interessiert. Der Pädagoge sollte in ihrem Verständnis Assistent, Beobachter und Helfer des Kindes sein. Nach Montessori vollzieht sich die Reifung des Menschen nach bestimmten Reifegesetzen, und die Entwicklung erfolgt nach so genannten „sensiblen Perioden“, in denen es bestimmte Fähigkeiten besonders gut erlernt. Für jede dieser Stufen braucht das Kind eine spezifisch vorbereitete Umgebung, um seine Fähigkeiten entwickeln zu können (Thesing 2001). Für die Entwicklung der psychomotorischen Förderung waren insbesondere Montessoris Ideen des Sammelns von Sinnes- und Bewegungserfahrungen über Materialien und Personen sehr bedeutend. Außerdem wurde der Gedanke der „Selbsttätigkeit“ für eine psychomotorische Förderung mit aufgegriffen, d.h., dass Menschen eigeninitiativ handeln, tätig sind und darüber lernen können.

      Karl Bartsch (19./20. Jh.) entwickelte die sogenannten „geistig-orthopädischen Übungen“ (1927). Er vermutete, dass sogenannte Störungen der → psychischen Funktionen (z.B. Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit, Kombinationsfähigkeit) die Ursache dafür darstellen, dass Schüler versagen und nicht erfolgreich am Unterricht teilnehmen können. Bartsch übernahm Ideen von Montessori, so z. B. das Prinzip der Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit. Er wollte, im Gegensatz zu Montessori, dem Kind genügend Raum für kindliche Fantasie und das Ausleben im Spiel geben (Irmischer 1989). Bartsch zeigte in seinem Buch „Geistig orthopädische Übungen“ viele praktische Anwendungen, welche er nach 24seinem Material gliedert, und nützliche Tipps für deren Umsetzung. Er betonte, dass der Lehrer sich auf die Kinder einstellen soll, auch wenn seine Übungen sehr funktional sind und einem strengen Ordnungsrahmen unterliegen (Irmischer 1989). Sein Ziel war es, durch systematische Behandlung der vorliegenden Störungen mittels Übungen, einen Ausgleich zu schaffen. Dazu entwickelte er Hauptübungen, Ergänzungsübungen und Abschlussübungen, die während eines Schuljahres stets wiederholt wurden. Inhalte der Übungen sind z. B. räumliche Begriffe / Präpositionen (z. B. oben, unten, darunter, durch, …), Zahlenverständnis, Aufmerksamkeitsförderung, Tastempfinden, Gehörschulung, visuelle Wahrnehmung, Gedächtnistraining, Beobachtungsschulung und Lesenlernen (Bartsch 1927). Zu allen Bereichen hat er ein umfangreiches Praxis-Repertoire zusammengestellt, welches Kiphard in seine Überlegungen einbezog.

      Gustav Lesemann (19./20. Jh.) erarbeitete 1925 entwicklungsorientierte Hilfen in seinem Buch „Lebendige Krücken“. Diese Übungen waren kindgemäßer und individueller im Vergleich zu denen von Bartsch. Er betonte, dass die Übungen abwechslungsreich und motivierend vermittelt werden sollten (Irmischer 1989). Bereits damals wies Lesemann darauf hin, dass Schüler mit → motorischen Schwächen oft nicht die Voraussetzungen mitbringen, um die Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen. Er sah es als erwiesen an, dass die → motorischen Schwächen von beeinträchtigten Kindern ihre Entwicklung insgesamt behindern, und er forderte daher eine intensive Förderung mit dem Ziel einer ganzheitlichen Erziehung (Irmischer 1989). Das Wort „lebendig“ im Titel seines Buches steht für → Individualisierung anstelle → Generalisierung. Zum Verständnis: unter „toten Krücken“ fallen alle allgemein gültigen Maßnahmen, die unabhängig von einer Person sind (z.B. ein Stock als Gehhilfe). Hingegen meint „lebendige Krücken“ eine individuelle Abstimmung der Hilfen auf eine Person (z.B. durch gezielte, individuelle Bewegungsübungen). Störungen der Koordination konnten für Lesemann → sensorisch, → motorisch oder intrapsychisch bedingt sein, wobei dann Körper und Seele nicht in gewohnter Weise zusammenwirken. Seine zahlreichen geistig-orthopädischen Übungen beziehen sich auf → Motorik, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und → Emotion (Lesemann 1963). „Die vielen praktischen Beispiele und Übungen, die Lesemann vorstellt, nehmen zahlreiche Ideen voraus, die Kiphard in seinen späteren Werken veröffentlichte“ (Irmischer 1989, 12).

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      Heinz Löwnau (20. Jh.) brachte den speziellen Aspekt der Verhaltensbeeinflussung im Rahmen einer Bewegungserziehung ein (1961). Er war Kinder- und Jugendpsychiater und beobachtete, dass sich gehemmte, ängstliche, unruhige, triebhafte Kinder nicht in Spiele einordnen können, dass sie schnell frustriert sind und sich → motorisch