Produktivitätssteigerung und Spezialisierung, weil sie, im Unterschied zu subsistenzorientierten und risikominimierenden Bauern oder Grundherren eher profitmaximierend dachten.52 [<<82]
Die räumliche Reichweite solcher Ankäufe variierte mit der Größe der jeweiligen Stadt: Während in Augsburg stadtbürgerlicher Grundbesitz im Umland sich über einen Radius von 40–60 km erstreckte, war der Bereich in regionalen Zentren wie Memmingen oder Nördlingen kaum größer als 20 km, für Marktstädtchen wie Kempten oder Donauwörth überstieg der Bereich stadtbürgerlichen Grundbesitzes selten 10–15 km. Häufig spielten auch die städtischen Spitäler eine wesentliche Rolle im Aufbau außerstädtischen Grundbesitzes. Diese waren meist schon mit Landbesitz außerhalb der Stadt ausgestattet und bauten diesen dann planmäßig aus. Die städtischen Eliten, die häufig über Leitungspositionen oder Vormundschaften die Geschäftspolitik der Spitäler kontrollierten, verfügten mit den Spitälern über ein Instrument, das weniger das Misstrauen des regionalen Adels provozierte als individuelle Kaufstrategien.53
Die Verleihung städtischen Bürgerrechts an Bewohner des städtischen Umlandes, sowohl Adlige als auch Klöster und Bauern, war eine häufige Praxis, auch wenn Kaiser Karl IV. in der Goldenen Bulle von 1356 bestrebt war, die Verleihung der sogenannten Pfahlbürgerrechte an Bauern des Umlands zu unterbinden. Viele Städte ignorierten erfolgreich das Verbot. Für Städte wie Köln, die angesichts spezifischer regionaler Kräfteverhältnisse kaum ein geschlossenes Territorium aufbauen konnten, war die Verleihung von Bürgerrechten an führende regionale Adelsfamilien offenbar eine adäquate Kompensationsstrategie. Augsburg drängte das städtische Bürgerrecht auswärtigen Klöstern geradezu auf, um diese im Hinblick auf deren wirtschaftliche Potenz besser nutzen zu können.54 In anderen Städten, insbesondere den Textilstädten Schwabens wie Kempten oder Isny, diente die Verleihung städtischer Bürgerrechte an Auswärtige auch dazu, die gewerbliche Produktion im Umland besser kontrollieren zu können.55
Im Hinblick auf die Entfaltung einer regelrechten städtischen Territorialpolitik können wir sehr deutliche Unterschiede zwischen nord- und süddeutschen Städten feststellen. Während eine größere Anzahl süddeutscher Reichsstädte erfolgreich ihre individuellen ländlichen Besitztümer, Bündel von Rechten für außerstädtische Gebiete und Schutzbündnisse in konsolidierte abhängige Territorien verwandeln konnten, gelang dies im Norden nur wenigen größeren Städten, etwa Bremen, Hamburg, [<<83] Lübeck, Braunschweig und Lüneburg. Scott erklärt diese regionale Varianz auch mit unterschiedlichen Prioritäten: Für die norddeutschen Hansestädte war Frieden und die Sicherung der Handelsrouten wesentlich bedeutsamer als der Erwerb ländlicher Gebiete per se. Viele norddeutsche Städte verließen sich auch stärker auf Hypotheken, d. h. ihr Besitz konnte durch Rückzahlung der Darlehen seitens der Schuldner wieder verloren gehen. Ein Aspekt, warum die Hansestädte weniger Wert auf eine Territorialpolitik legten als süddeutsche Reichsstädte, dürfte auch deren geringere Abhängigkeit von den Ressourcen ihres unmittelbaren Umlandes sein. Während die süddeutschen Städte in der Hauptsache darauf angewiesen waren, ihr Getreide, ihr Holz und die Rohstoffe für ihre gewerbliche Produktion aus einem aus transportwirtschaftlichen Kostengründen relativ nahen Umland zu erhalten, standen den Hansestädten an der Küste auf dem Seeweg weiträumige Versorgungsregionen auch in größeren Entfernungen zu günstigen Transportkosten zur Verfügung. So war für eine Stadt wie Lübeck der Weichselraum, obwohl mehrere hundert Kilometer entfernt, wichtiger als das regionale Hinterland als zusätzliche Basis der Getreideversorgung. Unter den süddeutschen Städten waren Nürnberg (1200 km²) und Ulm (830 km²) am erfolgreichsten in ihrer Territorialpolitik. An dritter Stelle kam Erfurt (610 km²), aber bereits die Städte auf den Rängen 4 und 5, Rothenburg ob der Tauber und Schwäbisch Hall, zeigen, dass ein großes städtisches Territorium einer Stadt nicht zwangsläufig überregionale Bedeutung verlieh.
Warum verfolgten die süddeutschen Städte nun eine solche Territorialpolitik? Zunächst einmal ging es, wie oben angedeutet, um die Sicherung elementarer Ressourcen, insbesondere der Getreideversorgung. Ein zweites Motiv war das Erzielen landwirtschaftlichen Einkommens, das das städtische Einkommen ergänzte. In Ulm kamen in guten Erntejahren bis zu 22 % des städtischen Einkommens aus dem Landbesitz der Stadt.56 Das Territorium einer Stadt diente drittens als demografische Reserve, um das wegen der hohen städtischen Mortalität chronische demografische Defizit der Städte auszugleichen und um fehlende Arbeitskräfte zu rekrutieren.
Städtische Territorialpolitik konnte sehr unterschiedliche Formen annehmen. Neigten „zentrale Orte“ im Sinne des Christallerschen Modells eher dazu, ein in der Tendenz nach allen Richtungen ungefähr gleich großes, radiales Territorium zu erwerben, so zeigt sich in Fernhandelsstädten („Netzwerk-Modell“) viel eher das Interesse, Land entlang der Handelskorridore, stützpunktförmig, also gewissermaßen axial zu erwerben. Auch Städte im Binnenland wie Erfurt und Ulm kombinierten die Rollen eines [<<84] Handelsstützpunkts und eines zentralen Ortes miteinander. Der Besitz eines Territoriums war allerdings keineswegs eine unverzichtbare Bedingung wirtschaftlichen Erfolges, wie die Beispiele Augsburg und Köln zeigen.57
Im Rahmen der Umlandpolitik und der Kontrolle der näheren Marktzone, war die Durchsetzung des Marktbanns in der Regel zentral: Die meisten Städte forderten, dass in einer Entfernung von ein bis zwei deutschen Meilen (7,4 bis 14,7 km) keine anderen Märkte stattfinden dürfen. Besonders mächtige und erfolgreiche Städte wie Augsburg konnten eine Bannmeile ihres Marktzwangs von bis zu 10 Meilen (73,6 km) durchsetzen. Leipzig verlieh die Bannmeile entscheidende Konkurrenzvorteile gegenüber Nachbarstädten in der Region.
4.6 Das Verlagssystem: Arbeitsressourcen des Hinterlands mobilisieren
Das Hinterland bot aber nicht nur für die Versorgung der Städte essenzielle Ressourcen, sondern verfügte auch über Arbeitskräfte. Seit dem 13. Jahrhundert entfaltete sich ein ländliches Gewerbe, vor allem im Bereich der Textilproduktion, das aus der winterlichen Eigenproduktion der Bauern für den eigenen Bedarf erwachsen war. Das Spinnen von Garn, das Weben einfacher Tuche, zunächst für den Eigenbedarf, füllte in vielen bäuerlichen Haushalten den arbeitsarmen Winter. Aufgrund des demografischen Wachstums entstand noch vor der Pest vor allem in Realteilungsgebieten eine unterbäuerliche Schicht, die über zu wenig Land verfügte, um sich allein davon ernähren zu können. Andererseits erwiesen sich die zünftischen Produktionsbeschränkungen in der Stadt aus Sicht städtischer Tuchhändler als Hemmnisse weiteren Wachstums. In dieser Situation begannen städtische Kaufleute, meist „Verleger“ genannt, die ländlichen Arbeitskraftreserven für einfache Produktionsstufen (Spinnen, Weben) zu mobilisieren. Größere Verbreitung fand das „Verlagssystem“ seit dem 13. Jahrhundert nördlich des Bodensees in der Herstellung von Leinwand-Tuchen. Verleger aus Konstanz, Ravensburg, Memmingen usw. brachten Flachs, das Rohmaterial für Linnen, in die Häuser der Spinner und Weber und sammelten das gesponnene Garn bzw. die gewobenen Tuche dann nach einer Woche wieder ein, bezahlten die Arbeit im Stücklohn und brachten neues Rohmaterial für neue Aufträge. Häufig stellten die Verleger auch die Arbeitsmittel, insbesondere die Webstühle. Der Flachs wurde auf den dafür klimatisch geeigneten feuchten Böden des Allgäus angebaut, zugleich wurde auch [<<85] die im Allgäu mit ausgedehnter Viehwirtschaft produzierte Milch für die Bleichvorgänge verwendet. Es entstand also eine regionale integrierte Arbeitsteilung zwischen den Flachs und Milch produzierenden Anbauregionen im Allgäu, den demografisch überbesetzten Dörfern Oberschwabens, wo die Verarbeitung des Flaches stattfand und den städtischen Verlegern, die die Austauschprozesse ökonomisch koordinierten und lenkten. Die Endverarbeitungsstufen der Textilprodukte fanden in der Regel dann wieder in Städten wie Konstanz, Ravensburg oder Memmingen statt, wo die Tuche dann auch mit den städtischen Qualitätssiegeln versehen wurden.58
Das Verlagssystem etablierte sich im Spätmittelalter und der beginnenden frühen Neuzeit auch in anderen Gewerbezweigen. Die Kontrolle der Textilhandelsstädte über ihr jeweiliges verlagsindustrielles Hinterland war jedoch keineswegs dauerhaft gesichert; so gelang es beispielsweise unternehmerisch gesinnten Kaufleuten wie den Fuggern, qualifizierte ländliche Spinner und Weber aus dem Ulmer Hinterland wegzulocken und in eigenen Städten als Arbeitskräfte anzusiedeln.59 Generell fanden im Rahmen des Verlagssystems die Produktionsstufen