produziert und so Selbstverstärkungswirkungen entfaltet, verfestigt sich der einmal eingeschlagene Pfad. In der Folge erscheinen Entscheidungsspielräume den Akteuren als erheblich eingeschränkt, was die Pfadabhängigkeitsforschung als „lock-in“ bezeichnet. Diese Strahlkraft von Geschichte in unsere Gegenwart verweist darauf, dass wir die Strukturen, mit denen es heutige Stadtentwicklung und Umweltpolitik zu tun hat, nur angemessen verstehen können, wenn wir sie in ihrer langfristigen Genese analysieren und erklären.
An diesem Punkt setzt dieses Studienbuch an: Es möchte deutlich machen, wie die heutigen Strukturen, die unsere europäischen Städte als gebaute Entität prägen, sich langfristig formiert haben. Diese Langfristperspektive wird auch zeigen, dass die europäischen Städte schon immer ihre Umwelt erheblich verändert und umgestaltet haben, wobei Dauerhaftigkeit und Reversibilität dieser Eingriffe unterschiedlich waren.
Der Gang durch die Geschichte der europäischen Stadt, auf den dieses Buch seine Leser mitnehmen möchte, wird unter einer besonderen Perspektive stehen, die aus der eingangs erläuterten Problematik erwächst: Im Zentrum wird das Stadt-Umwelt-Verhältnis stehen, konkreter die Frage, wie die Stadt als „kollektiver Konsument“ von Nahrungsmitteln, Wasser, Energie, Rohstoffen etc. diese Ressourcen beschafft und damit auf ihre Umwelt, ihr Umland eingewirkt hat. Zentral wird weiterhin die „Kehrseite“ dieses Aspektes sein: In der Verwertung von Nahrungsmitteln, Wasser, Energie und Rohstoffen produziert die Stadt „Restprodukte“ dieses Konsums: Fäkalien, Abwasser, Abfall, Rauch, Asche, aber auch gewerbliche Produkte einer höheren Fertigungsstufe. Diese Materialien können nur sehr bedingt auf städtischem Territorium gelagert werden, zum einen aus Platzmangel, zum anderen aus hygienischen Gründen. Städte waren und sind also darauf angewiesen, ihre Stoffwechselprodukte an ihre Umwelt abzugeben und sie dadurch zu „entsorgen“ bzw. einer neuen, anderen Nutzung zuzuführen, sie zu „recyceln“. Gewerbliche Produkte werden, soweit sie nicht innerhalb der Stadt konsumiert werden, an die Umwelt über Handel abgegeben, um damit wieder andere benötigte Materialien für den städtischen Stoffwechsel zu erwerben. Diese Strukturnotwendigkeiten der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und deren Sicherung [<<15] einerseits, der Entsorgung der Stoffwechselprodukte und damit Unschädlichmachung für die städtische Bevölkerung andererseits sind gewissermaßen universale Grundkonstanten städtischer Existenz über alle historischen Epochen hinweg.
„Stadt“ soll für dieses Studienbuch als verdichtete Siedlung begriffen werden, die für ein unterschiedlich großes Umland zentrale Funktionen des Güteraustauschs (Markt), der politischen Herrschaft und Verwaltung, der Produktion gewerblicher Güter und der kulturellen Reproduktion (Hauptkirchen, Schulen, Universitäten, Wissenseinrichtungen) ausübt.9 Relativ breite Akzeptanz hat in der deutschen Stadtgeschichtsforschung eine eher an der vormodernen Stadt von Franz Irsigler entwickelte Definition gefunden:
„Stadt (ist) eine vom Dorf und nichtagrarischen Einzwecksiedlungen unterschiedene Siedlung relativer Größe mit verdichteter, gegliederter Bebauung, beruflich spezialisierter und sozial geschichteter Bevölkerung und zentralen Funktionen politisch-herrschaftlicher-militärischer, wirtschaftlicher und kultisch-kultureller Art für eine bestimmte Region oder regionale Bevölkerung. Erscheinungsbild, innere Struktur sowie Zahl und Art der Funktionen sind je nach Raum und Zeit verschieden: Die jeweilige Kombination bestimmt einmal die Individualität der Stadt, zum anderen ermöglichen typische Kombinationen die Bildung von temporären und regionalen Typen oder Leitformen, je nach den vorherrschenden Kriterien.“10
Die auch in Irsiglers Definition akzentuierte funktionale Spezialisierung und Arbeitsteilung bedeutet, dass ein variabler, aber in der Regel nennenswerter Teil der Stadtbevölkerung nicht oder nur teilweise mit Landwirtschaft befasst ist. Die Stadt ist daher Netto-Konsument von Agrarprodukten, die nicht auf ihrem Territorium produziert werden können. Aus dieser Tatsache ergibt sich unabweisbar der Zwang, diese primär konsumierende Bevölkerung aus den Überschüssen anderer Gebiete zu versorgen. Historisch unterschiedlich wurde nun aber jeweils die Frage gelöst, wie diese Versorgung konkret organisiert, gesichert wurde. Hier spielten der Stand der Agrartechnik und der Agrarverfassung, die naturräumliche Lage, die Entwicklung der Transporttechnik, aber auch Fragen der politischen Herrschaft bzw. der wirtschaftlichen Dominanz über Versorgungsgebiete eine zentrale Rolle. [<<16]
Fokus 1: Die Stadt und ihr Stoffwechsel
In der Umweltgeschichte, insbesondere der Umweltgeschichte der Stadt, hat sich in den letzten Jahren ein Ansatz entwickelt, der das Verhältnis Stadt-Umwelt unter dem Leitbegriff „gesellschaftlicher Stoffwechsel“ konzeptualisiert.11
Abb 1 Gesellschaftlicher Stoffwechsel der Stadt [<<17]
Dieser von der Interdisziplinären Forschergruppe für Soziale Ökologie unter der Leitung von Marina Fischer-Kowalski an der Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Alpen-Adria Universität Klagenfurt-Wien-Graz entwickelte Ansatz, der auf älteren Studien etwa von Stephen Boyden zum Stoffwechsel Hongkongs aufbaut12, fragt nach den Ressourcen, die für die Reproduktion der Stadt lebenswichtig sind. Die Stadt braucht zur Aufrechterhaltung des biologischen Stoffwechsels ihrer (menschlichen, tierischen und pflanzlichen) Bewohner wie auch für kollektive Phänomene, etwa den Bau von Straßen, Plätzen, Gebäuden, die Zuführung von dafür unverzichtbaren Materialien und Ressourcen, hier als „Inputs“ bezeichnet. Diese werden in der Stadt verarbeitet, verbraucht und in veränderter Form als Abfall, als verarbeitete Produkte („Outputs“) deponiert, ausgeschieden oder abgegeben. Der Fokus auf den Stoffwechsel der Stadt stellt also Stoffströme und deren Veränderung ins Zentrum, insbesondere aber auch den Prozess der „Kolonisierung der Natur“ durch die Stadt. Zur Befriedigung ihrer Ressourcenbedürfnisse wie zur Entsorgung der Restprodukte greifen Städte in langfristiger Perspektive räumlich immer weiter in ihr Umland aus. Sie nutzen die Ressourcen dieses Umlands für ihren Stoffwechsel und – zur Absicherung dieser Nutzung – unterwerfen sich dies entweder durch politische Beherrschung, indem Städte etwa ein eigenes Herrschaftsgebiet aufbauen, oder durch wirtschaftliche Dominanz, etwa den Kauf von Land oder von Gütern. Im Industriezeitalter erreicht diese „Kolonisierung von Natur“ schließlich neue Dimensionen, indem Städte sich für die Erschließung der Ressourcen in großen Entfernungen technisch-industrieller Transportsysteme wie Eisenbahn, Dampfschifffahrt, aber auch dampfmaschinengetriebener Pumpsysteme bedienen können, die auch den Ferntransport eigentlich geringwertiger Güter (z. B. Wasser) ermöglichen. Stadt mobilisiert also die Ressourcen des Umlandes für den sich in ihr vollziehenden gesellschaftlichen Stoffwechsel. Zugleich verändert sie damit tendenziell tief greifend die Ökosysteme ihrer Umwelt, etwa durch die Ausrichtung landwirtschaftlicher Bewirtschaftung auf die primären Konsumbedürfnisse der städtischen Bevölkerung, durch Absenken des Grundwasserspiegels bei Wasserentnahme, durch Entwaldung oder Veränderung der Zusammensetzung und Bewirtschaftung des Waldes, durch Abraumhalden, Mülldeponien oder Flussverschmutzung, was wiederum die Möglichkeiten flussabwärts gelegener Städte, den Fluss zu nutzen, beeinträchtigt.
Was jeweils konkret als „Umland“ zu definieren ist, ist historisch und geografisch variabel. Für die flandrischen und niederländischen Städte des späten Mittelalters und [<<18] der frühen Neuzeit waren die Getreideanbaugebiete rund um die Ostsee Umland in dem Sinne, dass die Getreideexporte etwa der Gebiete entlang der Weichsel für die Brotversorgung von Brügge, Antwerpen oder Amsterdam bedeutsam waren (vgl. Kap. 4.3, S. 76 u. Kap. 6.5, S. 141). Das konkrete Ausmaß des Umlands hing daher ab von der spezifischen Ressource, ihrem Wert, ihrer Transportierbarkeit sowie dem Stand der Transporttechnik und der Lage der Stadt. Heute ist in vieler Hinsicht die ganze Welt Umland unserer europäischen Städte, wozu wesentlich die radikale Senkung von Transport- und Transaktionskosten der modernen Logistik beigetragen hat. Ein Blick auf die Herkunftsorte der Waren in unseren größeren Supermärkten reicht, um die heutige Globalität des Umlandes einsichtig zu machen.
Sowohl zur Gewinnung der im Stoffwechsel der Stadt benötigten Inputs als auch zur Entsorgung der Outputs ist Fläche/Land unverzichtbar.