Straßenraster. In anderen Fällen knüpften frühmittelalterliche Siedlungen zwar an Römerstädte an, aber nicht an deren zentrale Teile, sondern häufig in Vorstädten oder in der Nähe von Grabkirchen auf den ehemaligen Gräberfeldern wie etwa in Bonn, Mainz und Speyer.
Insgesamt resultierte der Untergang des Römischen Reiches auch nördlich der Alpen nicht in einem vollständigen Kollaps städtischer Zivilisation; für Gallien im 6. Jahrhundert sind quellenmäßig eine nach wie vor dichte städtische Besiedlung, starke Befestigung von Städten wie etwa Dijon und ein ausgeprägter Binnenhandel mit Waren aller Art als klare Indikatoren städtischer Wirtschaft nachgewiesen.3 Die Kirche bildete vielfach die Kontinuitätsbrücke: „Im Schatten der Kirche“, so die Historikerin Edith Ennen, „retten sich städtische Lebensgewohnheiten ins Mittelalter.“4 Allerdings ist generell eine starke Schrumpfung der Bevölkerung vieler Städte zu konstatieren; der städtische Standort der Gewerbe wurde teilweise aufgegeben. Die Römerstraßen verloren erheblich an Bedeutung, weil sie nicht mehr unterhalten und gesichert werden konnten, der Handel wandte sich vermehrt den Flüssen zu. Insgesamt fehlte eine starke und an der Aufrechterhaltung der Infrastruktur interessierte Zentralgewalt, die Verkehrskreise und Beziehungen zwischen den Städten reduzierten sich erheblich. Waren die Städte als Mittelpunkte der civitates im Römischen Reich die entscheidenden Schaltstellen politischer und wirtschaftlicher Macht gewesen, so wurden sie im Karolingerreich zu Inseln in einer ländlich gewordenen Umwelt. Die städtische Lebensform war nicht mehr länger die Lebensform schlechthin, das Land, seine Klöster, seine Herrensitze hatten Eigenbedeutung, strebten nach Selbstversorgung jenseits städtischer Märkte.
2.2 Wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen
Wie sah der Kontext dieser ländlichen Gesellschaft aus, in dem diese Städte-Inseln existierten und in dem dann nach 1100 eine neue „Stadtblüte“ entstehen sollte? Als Folge des Zusammenbruchs des Römischen Reiches und die Wirren der Völkerwanderung richtete sich das Wirtschaften weitgehend auf das Primat der kleinräumigen Selbstversorgung aus. Bis zum Karolingerreich war die Bevölkerung in den zuvor [<<27] römisch geprägten Gebieten nördlich der Alpen deutlich zurückgegangen. Um 800 lebten auf dem Gebiet der alten BRD 4–5 Menschen je km²; heute sind es 229.5 Die allermeisten Menschen, rund 95 %, waren im primären Sektor, der Erzeugung von Lebensmitteln, beschäftigt. Dies verweist zugleich auf ein Grundproblem der frühmittelalterlichen Gesellschaft: Wegen der sehr niedrigen Produktivität der Landwirtschaft konnte nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung, maximal 5 %, aus den agrarischen Überschüssen ernährt werden, die die restlichen 95 % erzielten. Weil Städte und städtische Bevölkerung in der Regel ihre Nahrungsmittel nur eingeschränkt selbst erzeugten, bildete die niedrige Produktivität der Landwirtschaft eine entscheidende Schranke für die Entwicklung des Städtewesens. Für eine proportionale Steigerung des Anteils der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung bedurfte es daher zwingend einer Zunahme der agrarischen Produktivität, einer Vermehrung der Überschüsse. Nur wenn entweder das nähere Umland ausreichend Überschüsse erwirtschaften konnte oder die Lage einer Stadt so transportgünstig war, dass entsprechender Bedarf über Fluss- oder Seeschifffahrt aus weiter entfernten Regionen befriedigt werden konnte, waren die ressourcenmäßigen Voraussetzungen für städtisches Wachstum gegeben.
Wie war nun die wirtschaftliche und politische Verfassung des Früh- und Hochmittelalters beschaffen? Die mittelalterliche Gesellschaft wird als Feudalgesellschaft bezeichnet; strukturierendes Prinzip war das Lehenssystem, wonach vom König, dem im Prinzip aus dem Recht der Eroberung alles Land und alle Rechte gehören, seinen Gefolgsleuten, ursprünglich meist Kriegern, Grundstücke und die auf diesem Land lebenden Menschen zu Lehen gegeben wird. Dieses Land soll dazu dienen, den Unterhalt dieses Gefolgsmannes und seiner Familie zu sichern und seine Ausrüstung mit Waffen, Rüstung, Pferd usw. zu bezahlen. Im Rahmen der Lehenspyramide ergab sich dann im Laufe der Zeit ein mehrfach gestuftes System, weil die ursprünglichen Lehensnehmer Teile ihres Lehens weiter als Lehen vergaben.
Es gab nun verschiedene Formen der Herrschaft, die jeweils eigene Grundlagen hatten: Die Grundherrschaft beruhte auf der Überlassung von Bodennutzung als Lehen und äußerte sich in der Ableistung von Diensten und in Natural- oder Geldabgaben seitens der Bauern an den Grundherrn. Die Leibherrschaft bestand darin, dass die Hörigen in persönlicher Abhängigkeit von ihrem Leibherrn standen; im Unterschied zu [<<28] Sklaven konnten sie aber nicht frei verkauft werden, sondern nur im Zusammenhang mit dem Boden, den sie bewirtschafteten. Leibeigene waren also rechtlich gewissermaßen Teil des Landes, sie konnten nur mit Genehmigung ihres Leibherrn ihr Dorf verlassen, mussten Abgaben bezahlen. Gerichtsherrschaft bedeutete, dass ein weltlicher oder geistlicher Herr die Gerichtsrechte über einen Ort oder eine Region hatte. Recht zu sprechen war nicht nur eine Machtposition, sondern brachte angesichts der Gerichtsgebühren auch erhebliche Einnahmen. Landesherrschaft bezeichnete die vor allem politische und militärische Kontrolle über ein größeres Gebiet, die der Fiktion nach als Stellvertreter des Königs ausgeübt wurde, sich häufig aber, insbesondere wenn der König schwach oder weit entfernt war, mehr oder weniger verselbstständigte. Der Landesherr konnte bei Bedarf die ihm untergebenen Adligen zum Kriegsdienst aufrufen, er konnte von den Ortschaften seines Landes Beiträge zur Finanzierung von Heerzügen fordern. Hervorzuheben ist, dass die mittelalterliche Gesellschaft im Prinzip keine klare Trennung von Staat und Gesellschaft kannte. Die öffentlich-rechtlichen Funktionen der Feudalherren wie etwa Gerichtsherrschaft vermischen sich mit privatrechtlichen Komponenten, etwa die als Grundbesitzer. In bereits älter besiedelten Teilen Europas lagen die Funktionen von Grundherr, Leibherr und Gerichtsherr vor Ort oft nicht in einer Hand: Gerichtsherr war etwa ein anderer Adliger als der Grundherr. Diese Pluralität sorgte für eine gewisse Herrschaftskonkurrenz, die größere Spielräume für die Bauern und Leibeigenen schuf. Dagegen fielen in erst später im Zuge des Landesausbaus besiedelten Gebieten, etwa östlich der Elbe, die unterschiedlichen Herrschaftsfunktionen meist in einer Person zusammen, was eine stärker monolithische Herrschaftsstruktur zur Folge hatte.
Landwirtschaft wurde im Frühmittelalter und bis ins 12. Jahrhundert vorrangig in der Organisationsform der Villikation betrieben. Dies bedeutet, dass die Villa des Grundherrn, sein Wohnsitz, das Zentrum für die Verwaltung und Überwachung des ganzen Grundherrschaftsbereichs bildete. Das primäre Ziel des Wirtschaftens war, die Versorgung des Haushalts des herrschaftlichen Hofes sicherzustellen. Der Hof und die Villikation zielten daher auf Autarkie; es gab einen gewissen Grad von Arbeitsteilung innerhalb der Villikation, um neben den Grundnahrungsmitteln auch unverzichtbare gewerbliche Produkte zu erzeugen (z. B. Schmied, Küfer). Die Produktion für den Markt stand nicht im Vordergrund, wenngleich Überschüsse durchaus über den Markt vertrieben wurden. Zu einer Villikation konnten noch Hunderte von Familien in näherer oder weiterer Entfernung vom Salhof oder Herrenhof, dem Zentrum der Villikation gehören. Diese Familien trugen teilweise durch Arbeit auf dem Salhof, durch sogenannte Frondienste (z. B. während der Saat, der Ernte), teilweise durch Naturallieferungen in höherwertigen Gütern zur Wirtschaft der Villikation bei. Bei [<<29] großen Ausdehnungen der Villikation dienten Nebenhöfe mit einem Maior (Meier) als Unterzentren zum Sammeln der Naturalleistungen. Der häufige deutsche Name „Meier“ geht auf diese Funktion – Vorsteher eines Meierhofes – zurück. Insbesondere die großen Klöster hatten dieses Villikationssystem in extensiver Weise entwickelt; sie verwalteten teilweise weit verstreuten Grundbesitz, der über die ins Kloster eingetretenen Mönche und Nonnen in den Besitz des Klosters gelangt war. Die Villikation war allerdings nie die einzige Organisationsform des ländlichen Wirtschaftens. Gerade im Ostteil des Karolingerreiches überwogen nicht die großen, sondern eher kleinere und mittlere Grundherrschaften, was einerseits eine Dominanz von primär für den eigenen Bedarf produzierenden Bauernhöfen, andererseits ein freies, nicht in die Villikation eingebundenes Dorfhandwerk zur Folge hatte.
Bauern hatten in diesem Feudalsystem eine rechtlich untergeordnete, aber ökonomisch wesentliche Rolle: Sie waren keine Sklaven, wie eine große Zahl der Arbeitskräfte auf den Latifundien Roms, sondern Halbfreie: an die Scholle gebunden, konnten sie zusammen mit dem Land von ihrem Grundherren verkauft, verschenkt oder verpfändet werden. Sie waren dem Grundherrn gegenüber zu Arbeitsleistungen verpflichtet, insbesondere zu den Zeiten hohen Arbeitsanfalls bei Saat und Ernte. Diese Dienste waren in besonderen Pflichtenheften,