Bei außergewöhnlichen Umständen, zum Beispiel dem Tod des Bauern, war durch Abgabe eines Kleidungsstückes oder eines Stücks Vieh eine Art Erbschaftssteuer („Todfall“) zu bezahlen. Häufig bewirtschafteten Bauern neben der Arbeit auf dem Fronhof auch noch ein mehr oder weniger großes Stück Land, das ihnen zwar nicht im modernen juristischen Sinn als Eigentum gehörte, für das sie aber, teilweise auch vererbliche, Nutzungsrechte hatten. Der Grundherr hatte prinzipiell die Verpflichtung, seine Bauern zu schützen und auch im Falle eines Ernteausfalls und dadurch bedingt einer Hungersnot dafür Sorge zu tragen, dass sie nicht verhungerten.6
Seit dem 9. Jahrhundert dynamisierte sich dieses auf Selbstversorgung autarker Einheiten ausgerichtete System allmählich; neben die Selbstversorgung trat allmählich auch die Produktion für Märkte. Arbeitsdienste und Naturallieferungen wurden in einem langwierigen Prozess partiell durch Geldleistungen abgelöst. Eine wesentliche Triebkraft für diese Dynamisierung war das Wachstum der Bevölkerung: Die Dichte [<<30] stieg von 4–5 Menschen pro km2 um 800 n. Chr. auf 12–15 um 1150 n. Chr. Besonders nach 1000 beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum merklich.7 Dieses Wachstum vollzog sich, da die Produktivität der Landwirtschaft zunächst nur sehr langsam anstieg, vor allem durch die Erweiterung der landwirtschaftlich genutzten Fläche, auch Landesausbau genannt. Erste Schritte erweiterten die bereits erschlossene landwirtschaftliche Nutzfläche eines Dorfes, darauf folgte der Landesausbau durch Rodung und Urbarmachung neuen Siedlungslandes in bisher unbesiedeltem, weil bewaldetem oder zu feuchtem Gelände. Der Landesausbau führte zur Gründung zahlreicher neuer Siedlungen; im Rheinland verzehnfachte sich deren Zahl zwischen 800 und 1150.8
Neben die Extensivierung der Landwirtschaft trat allmählich auch eine Intensivierung: Vorherrschende Form der Bodennutzung war nördlich der Alpen um 800 häufig noch die sogenannte Urwechselwirtschaft, bei der Land für einige Jahre als Ackerland genutzt und dann der Verwilderung überlassen wurde. Nachdem der Boden sich durch Aufwuchs von Sträuchern und Bäumen wieder regeneriert hatte, wurde er erneut gerodet und für einige Jahre beackert. Diese semi-nomadische Art der Bodennutzung war außerordentlich flächenintensiv. Je dichter die Bevölkerung wurde, umso weniger war diese Form der Bodennutzung geeignet, genügend Nahrung zu produzieren. Vom Früh- bis zum Hochmittelalter vollzog sich daher ein Wechsel zur Dreifelderwirtschaft: Die Feldflur um ein Dorf war dabei in drei ungefähr gleich große Feldmarken aufgeteilt, die in Rotation mit unterschiedlichen Feldfrüchten bebaut wurden. Jeder Bauer eines Dorfes hatte Land in allen drei Feldmarken, die Bewirtschaftung der Feldmarken wurde, um Schäden durch das Überfahren mit Fuhrwerken zu minimieren, auf der Ebene des Dorfes genossenschaftlich vereinbart (Flurzwang). Der wesentliche Vorteil der Dreifelderwirtschaft war, dass durch den Wechsel der Anbaufrüchte eine zu einseitige Beanspruchung der Böden verhindert und durch das Brachejahr jeweils alle drei Jahre die Gelegenheit zur Regeneration des Bodens gegeben war. Während der Brache wurde das Brachfeld teilweise auch als Weide genutzt, was durch den dabei anfallenden Viehkot wiederum die Bodenfruchtbarkeit erhöhte.9 Die Produktivität der Landwirtschaft war zu diesem Zeitpunkt noch recht gering, Henning beziffert die Getreideerträge mit dem 2,5 bis 3-fachen der Saatmenge. Zur niedrigen Produktivität kamen starke Ernteschwankungen von rund 40 % des Nettoertrags. Außerdem waren die Möglichkeiten, Überschüsse aus guten Erntejahren bei gleichbleibender Qualität [<<31] langfristig zu lagern, recht begrenzt. Die früh- und hochmittelalterliche Gesellschaft war von daher eine Mangelgesellschaft, deren Existenz prekär war; Ernteerträge lagen nur wenig über dem Bedarf; das Überleben war ständig von Hunger und Unbillen des Wetters abhängig.10
Allerdings schuf allmählich die kontinuierlichere Produktion von vermarktbaren Überschüssen an Lebensmitteln auf ökonomischer Ebene größere Spielräume für die Bildung von Städten. Gleichzeitig machte der Landesausbau auch Verwaltungsmittelpunkte für die neu etablierten Märkte notwendig; Sitze von Adligen im Neusiedelland umgaben sich mit Kaufleuten und Handwerkern, die Märkte beschickten.
2.3 Wege zur mittelalterlichen Stadt
Die mittelalterliche Stadt hatte ihren Ursprung in verschiedenen Typen von Siedlungskernen. Felicitas Schmieder nennt als funktionale Hauptfaktoren für die Entwicklung einer Siedlung zur Stadt wirtschaftliche, militärisch-herrschaftliche, kirchliche und zentralörtliche Funktionen.11
In der Forschung werden eine Reihe unterschiedlicher Entwicklungswege zur mittelalterlichen Stadt identifiziert: Zahlreiche bedeutende Städte, vor allem im romanischen Bereich Europas, aber auch in dem Teil Deutschlands, wo eine dauerhafte Präsenz Roms wirksam geworden war, gehen auf ehemalige Römerstädte zurück, die meist über ihre Eigenschaft als Bischofssitze überdauerten (in Deutschland etwa Aachen, Köln, Mainz, Regensburg, Trier). Ein zweiter Fokus waren Klostergründungen mit Bischofssitz, etwa Städte wie Bamberg oder Würzburg. Ein dritter Strang zeigt sich in kaiserlichen Pfalzen und fürstlichen Burgen wie Goslar und Paderborn, die als militärisch-herrschaftliche Zentren zu Stadtentwicklungen Anlass gaben. Viertens entstanden Städte aus umzäunten Marktsiedlungen freier Kaufleute (Wik-Siedlungen) wie etwa Hildesheim, wozu dann noch die Zentralität des Bischofssitzes kam. Städte konnten sich fünftens auch aus freien Meierhöfen oder Dörfern mit Marktrecht entwickeln, ein häufigeres Muster in Bayern (Orte mit „Markt“ im Namen), wobei die zentralörtliche wirtschaftliche Funktion im Vordergrund stand. Schließlich konnte [<<32] auch die Präsenz wichtiger Rohstoffe wie etwa Silber, deren Abbau Anlass zur Stadtgründung gab, städtebildend wirken, etwa in Frankenberg oder Freiberg in Sachsen.
Neben dieser funktionalen Genese waren auch geografische Faktoren für die Entwicklung von Städten wesentlich. Gunstlagen waren etwa Flussfurten, Wegkreuzungen, Flussmündungen oder/und ein hochwasserfreier Hügel oder Bergsporn. Die Gunst solcher Lagen bestand einerseits darin, Verkehr auf den Ort der Siedlung zu ziehen bzw. die von der Geografie bedingte Bündelung des Verkehrs, etwa bei einer Furt, einer Brücke oder einem Bergpass, dort kontrollieren oder abschöpfen zu können. Andererseits gründete die Gunstlage auf der Möglichkeit, den Siedlungsplatz militärisch mit vertretbaren Mitteln sichern und verteidigen zu können. So verdankte etwa München seine Gründung durch Heinrich den Löwen 1158 der Lage einer Isar-Furt, die zum Bau einer Brücke genutzt wurde, um den Salzhandel über den Ort zu führen und mit Zöllen abschöpfen zu können. Heinrich der Löwe zerstörte dazu eine dem Bischof gehörende Isarbrücke bei Föhring und zwang so die mit Salz handelnde Zunft, die Münchner Brücke zu nutzen.12
Besonders Flussspaltungen erwiesen sich als vorteilhaft für die Anlage städtischer Siedlungen. Kurz vor dem Zusammenfluss der Flussarme ist die Strömung deutlich langsamer, daher boten sich diese Stellen für die Errichtung von Fischwehren an, ein wichtiges Mittel der Fischerei. Diese Standorte waren aber auch günstig für die Querung von Flüssen auf Furten und – häufig daraus hervorgehend – den Bau von Brücken. Weil Wehre die Schifffahrt unterbrachen, mussten die Waren aus den Schiffen geladen werden, damit diese die Wehre in unbeladenem Zustand überwinden konnten.13 Solche Umlade- und Transportvorgänge übten eine große Anziehungskraft für die Entwicklung städtischer Siedlungen aus; häufig leiteten sich daraus auch bedeutende Privilegien wie Stapelrechte ab, die den Städten das Recht verliehen, alle die Stadt passierenden Kaufleute zu zwingen, ihre Waren auszuladen und für üblicherweise drei Tage auf dem Markt der Stadt feilzubieten.14
Am Beispiel Hildesheim, oben angeführt für den Entwicklungsweg aus einer Marktsiedlung freier Kaufleute, lässt sich der Prozess der Stadtwerdung und das Wirken der unterschiedlichen Faktoren gut nachvollziehen. [<<33]
Abb 2 Die Entwicklung von Hildesheim 1000–1300
Beim späteren Hildesheim mündete ein kleiner, selbst teilweise in mehrere Arme geteilter Bach, die Treibe, in die Innerste, die im flachen Flusstal wiederum in mehrere Arme zerfiel. Die erste nachgewiesene historische Siedlung, ein Straßenmarkt von freien Kaufleuten aus dem 7. Jahrhundert, lag zwischen den beiden Gewässern am Fuß eines steileren Berges, an einem Fernhandelsweg, dem Hellweg. Dieser zog sich durch den Straßenmarkt und führte westlich auf eine Furt, über die man die beiden Arme der Innerste überqueren konnte. Diese Wik-Siedlung bekam ihr Marktrecht