Städtelandschaft im Mittelalter
3.1 Stadtblüte im Hochmittelalter (1100–1300)
3.1.1 Wirtschaftliche und demografische Veränderungen 11. – 14. Jh.
Für die rasante Entwicklung von Städten in Europa seit dem späten 11. Jahrhundert war das europaweite Bevölkerungswachstum bis ins 14. Jahrhundert grundlegend. Es gibt zwar keine verlässlichen Zahlen, aber im Hinblick auf die Gesamttendenz ist die Forschung sich weitgehend einig: Nach einem massiven Rückgang in der Periode nach dem Untergang des Römischen Reichs, die Rede ist von rund einem Drittel bis ins 8. Jahrhundert, begann im 9. Jahrhundert ein Wiederanstieg, der bis zum Jahr 1000 zu einer Verdoppelung führt. Anschließend, bis ins frühe 14. Jahrhundert, dürfte sich die Bevölkerung nochmals verdoppelt haben. Cipolla gibt, bei großen Unsicherheiten, für die britischen Inseln ein Wachstum von 2 Mio. (1000) auf 5 Mio. (1300), für Frankreich von 5 auf 15 Mio., für Deutschland von 5 auf 12 Mio. an.1 Die Dynamisierung der Landwirtschaft setzte sich fort, das Tempo des Landesausbaus beschleunigte sich nach 1150 noch deutlich. Zudem begann auch der Prozess der Ostkolonisation, der planmäßigen Ansiedlung deutscher Bauern, Handwerker und Kaufleute in den Regionen östlich der Elbe, häufig verbunden mit Gründungen neuer Marktstädte und militärischer Stützpunkte. Auf den britischen Inseln vollzog sich in dieser Phase die Eroberung und Kolonisierung von Wales und Irland durch die normannischen Könige, wobei die Gründung von Städten als Herrschaftsmittelpunkte zentrale Bedeutung hatte.2 [<<41]
Begünstigt wurde die Transformation der Landwirtschaft durch eine vorteilhafte Veränderung des Klimas: Im Zeitraum von 1000–1250 waren die Sommertemperaturen im Durchschnitt 1 Grad Celsius wärmer als in der Periode 800–1000, außerdem war der Niederschlag deutlich, etwa um 10 % reduziert.3 Diese Klimaveränderung, die Klimahistoriker sprechen vom „mittelalterlichen Wärmeoptimum“, ermöglichte die Kultivierung von sogenannten Grenzböden, etwa in Mittelgebirgen, die in der vorhergegangenen Kaltperiode wegen zu kurzer Vegetationsperioden und zu niedrigen Temperaturen nicht mit Ackerbau bewirtschaftet werden konnten. Außerdem erlaubten die milderen klimatischen Bedingungen, Pflanzen an Standorten zu kultivieren, wo sie im Zuge der klimatischen Abkühlung seit dem 14. Jahrhundert nicht mehr gediehen. So gab es etwa ausgedehnte Weinberge in Südengland und auch in Norddeutschland weit über die gegenwärtigen Standorte hinaus.4
Zum demografischen Wachstum trug auch bei, dass Europa in dieser Periode von größeren Pestwellen oder anderen Epidemien weitgehend verschont blieb. Parallel zum Landesausbau durch Rodungen und Urbarmachung sumpfigen, unwegsamen Geländes steigerten technologische Veränderungen die Produktivität der Landwirtschaft und schufen Spielräume für ein Wachstum der Zahl nicht-agrarischer Produzenten. Mit Hilfe des Kummet konnte die Kraft der Pferde besser genutzt werden, der Wendepflug mit Streichbrett ermöglichte tieferes Pflügen und eine bessere Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit. Dreschflegel, Wassermühlen und Windmühlen wirkten arbeitssparend und ermöglichten den Bauern, ihre „freie“ Arbeitszeit im Winter etwa für die Textilproduktion einzusetzen.5
Weil mehr Menschen von den Überschüssen der agrarischen Produktion leben konnten, schuf das wirtschaftliche und demografische Wachstum günstige Rahmenbedingungen für das Wachstum von Städten bzw. die Gründung neuer Städte. [<<42]
3.1.2 Von der Stadt zur Kommune: Der Emanzipationsprozess der Städter
Früh- und hochmittelalterliche Städte waren in der Regel – wie in Kap. 2 (S. 25) an Hildesheim gezeigt – zunächst keine einheitlichen Siedlungen. Häufig finden wir eine Reihe topografisch wie auch sozial und funktional unterschiedlicher Siedlungskerne, die jeweils für sich befestigt waren. Die Bewohner dieser Siedlungskerne lebten unter jeweils anderen Rechtsverhältnissen und bildeten noch keine einheitliche politische Gemeinschaft; sie waren vielfach persönlich noch unfrei und standen in unterschiedlichen Dienst- und Abhängigkeitsverhältnissen von ihren jeweiligen Grundherren. Gesamteuropäisch können wir jedoch seit dem frühen 11. Jahrhundert eine graduelle und allmähliche Emanzipation der Städter beobachten, eine Einebnung der rechtlichen Unterschiede zwischen den Stadtbewohnern, die Bildung von Vereinigungen der Bürger, die in unterschiedlichem Ausmaß ihre Belange selbst verwalteten. Dieser Aspekt, die Selbstverwaltung der Städte – meist durch ihre Oberschicht – ist im Kern das, was Max Weber in universalgeschichtlicher Perspektive als Sonderweg der „okzidentalen Stadt“ beschrieben hat. Weber identifizierte in seinem Fragment gebliebenen und erst posthum veröffentlichten Werk „Die Stadt“ die freiwillige Vereinigung der Bürger europäischer Städte im Schwur (coniuratio) als zentrales konstitutives Merkmal der “okzidentalen“ (europäischen) Stadt im Unterschied zu den als Herrschaftspunkte fungierenden außereuropäischen Städten, wie sie uns etwa im Vorderen Orient oder in China begegnen.6
Dieser säkulare Prozess der Emanzipation der Städter vollzog sich seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts im Kontext der Kirchenreform und des Reformpapsttums. Kernpunkt der Kritik der Reformer war die Verweltlichung der Kirche, gefordert wurde eine Rückbesinnung der Kirche auf sich selbst. Dazu dienten die Durchsetzung des Zölibats und eine schärfere Interpretation der Simonie, des Ämterkaufs. Kirchliche und weltliche Macht waren um 1000 intensiv miteinander verflochten; hohe Positionen in der Kirche, vor allem die Ämter von Bischöfen, waren zugleich einträgliche Pfründe und weltliche Machtpositionen. Zur Sicherung ihrer Herrschaft stützten sich [<<43] insbesondere die ottonischen Könige des 10./11. Jahrhundert im Reich vorrangig auf die Bischöfe. Die Kirchenreform sah diese Verflechtung extrem kritisch: Wenn Laien, wie etwa der König, an der Besetzung kirchlicher Ämter beteiligt waren, galt dies als Simonie und damit verloren das Sakrament, das der Bischof spendete, aber auch die Weihe von Priestern durch den Bischof ihre Gültigkeit.7
Die Kirchenreform untergrub die Autorität der geistlichen und weltlichen Fürsten und trug zu einer Politisierung breiter Schichten bei.8 Im Kontext dieser Debatten sind erste Ansätze kommunaler Emanzipationsbewegungen zu interpretieren, die sich in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts in Norditalien, insbesondere in Mailand zeigten. Mailand, seit 374 Bischofsstadt, war im Hoch- und Spätmittelalter die größte Stadt Italiens und hatte religiöse und wirtschaftliche Zentralfunktionen. In den Jahren 1035–37 erhoben sich bischöfliche Lehnsleute zusammen mit nichtadeligen städtischen Grundbesitzern gegen den Bischof und dessen Versuch, den Adel umfassender zu beherrschen. In diesem Aufstand taucht bereits die Institution der coniuratio, der Schwureinung auf, die die Aufständischen untereinander schlossen. Nach dem Sieg über den Bischof wandte sich aber das Volk, vor allem die nichtadeligen städtischen Führungsschichten, gegen die adligen Vasallen, die jetzt Mailand beherrschten; sie bildeten eine politische Gemeinde und schworen sich gegenseitig einen Verpflichtungseid. Christliche Vorstellungen brüderlicher Gleichheit prägten diese Kommunenbildung. Spätestens mit der pataria seit den 1050er-Jahren spielten die Kirchenreform und der Kampf gegen die Simonie eine wichtige Rolle. Das Ergebnis langwieriger Kämpfe war letztlich eine deutliche Beschneidung der Befugnisse des Erzbischofs als Stadtherr; eine neue städtische Führungsschicht setzte 1097 eine konsularische Stadtverfassung ein und verdrängte den Erzbischof 1127 dann auch formell aus der Rolle des Stadtherrn. Mittelfristig profilierte sich nicht nur Mailand, sondern ganz Oberitalien als „Innovationsregion“, wo sich „… ein neues innovatives Modell zur Ausgestaltung kommunaler Freiheit, zur sozialen Differenzierung aufsteigender gesellschaftlicher Gruppen, zur Gestaltung des ökonomischen Wandels …“ formierte.9 [<<44]
Ähnliche Bewegungen setzten in der Periode ab etwa 1070 auch nördlich der Alpen, in Nordfrankreich, Flandern und dem Rheinland ein. Der intensive Handelsverkehr zwischen den oberitalienischen und den rheinischen und flandrischen Städten legt es nahe, dass man nördlich der Alpen von den norditalienischen Kommunenbildungen wusste. Politischer Kontext der städtischen Emanzipationsbewegungen war der Investiturstreit zwischen den Königen des Heiligen Römischen Reiches und dem Papst, wie er sich vornehmlich in der Periode 1056–1125 entwickelte.10 Investitur meint die Einweisung eines Geistlichen in sein Amt durch den zuständigen Oberen, die Verleihung der Symbole weltlicher (Temporalia = Ring) und geistlicher (Spiritualia = Bischofsstab) Gewalt. Unter