Ein Leitungssystem, das zahlreiche Brunnen in der Stadt versorgte, wurde durch eine Wasserkunst (Waterhuis) gespeist: Von Pferden getrieben wurde durch eine Eimerkette Wasser aus dem äußeren Ring auf das Dach des Waterhuis geschöpft, von wo es in das städtische Netz eingespeist wurde und zahlreiche Brunnen in der [<<57] Stadt mit Wasser versorgte. Dieses Leitungssystem, entstanden Ende des 13. Jahrhunderts, war der Stolz Brügges.35
International gesehen war Brügge als zentraler Knotenpunkt des Handels in Nordeuropa und zugleich als Vermittler zwischen Mittel- und Südeuropa im 14. Jahrhundert auf dem Höhepunkt seiner Macht und seiner wirtschaftlichen Entwicklung; allerdings konnte die Stadt nie eine Autonomie wie die italienischen Kommunen erreichen. Im 15. Jahrhundert sank jedoch Brügges Stern: Zwar war die Stadt außerordentlich glanzvoll, feierte großartige Turniere und Prozessionen, aber das wirtschaftliche Fundament war zunehmend ausgehöhlt. Dies lag zum einen daran, dass die alteingesessene Oberschicht an Kaufleuten sich allmählich aus dem aktiven Handelsgeschäft zu einem Rentierdasein zurückgezogen hatte. Der Brügger Handel wurde nun vielmehr von Ausländern, vor allem von Italienern übernommen. Der zweite Faktor für den Niedergang Brügges war eine Umweltveränderung: der Meeresarm Zwin, durch Sturmfluten im 12. Jahrhundert schiffbar geworden, verlandete zunehmend und Seeschiffe konnten so den Vorhafen von Brügge, Sluis, nicht mehr erreichen. Ein dritter Faktor war der Entzug der kaiserlichen Unterstützung Ende des 15. Jahrhunderts, nachdem der spätere Kaiser Maximilian von den Brügger Bürgern längere Zeit in Haft gehalten worden war (vgl. Kap. 6.5, S. 141 zu Antwerpen).
3.2.2 Modelle zur Erklärung des europäischen Städtesystems
Wie lässt sich die empirisch beobachtete Struktur des europäischen Städtesystems nun auf einer Modell-Ebene fassen? Ein bis heute wichtiger Ansatz zur Systematisierung der Verteilung von Städten und Orten unterschiedlicher Größe im Raum ist die Theorie der zentralen Orte, formuliert vom Geografen Walter Christaller.36 Christaller untersuchte um 1930 die Stadtstruktur Süddeutschlands in ihrer historischen Genese und identifizierte dabei ein hierarchisch gestuftes System zentraler Orte, wobei sich die Hierarchiestufe der jeweiligen Siedlung daraus ergab, welche Güter und Dienstleistungen jeweils angeboten wurden. Christaller ging davon aus, dass Güter und Dienstleistungen unterschiedliche Reichweiten haben: Je seltener ein Produkt nachgefragt wird, umso größer muss das Absatzgebiet sein, damit das Angebot wirtschaftlich erbracht [<<58] werden kann. Während die Produkte der Bäcker täglich und fast von jedermann nachgefragt werden, ist die Nachfrage nach Schmuck sehr viel geringer; Juweliere benötigen daher ein deutlich größeres Einzugsgebiet als Bäcker, sie werden meist nur in größeren Siedlungen anzutreffen sein.
Abb 5 Modell der zentralen Orte nach Christaller [<<59]
Um zufällige Einflüsse auszuschließen, ging Christaller von einem homogenen Raum und entsprechend proportional variablen Transportkosten aus; die Modellannahmen wurden aus der klassischen Ökonomie übernommen (homo oeconomicus, vollkommene Konkurrenz, vollständige Information). Aufgrund dieser Vorannahmen entwickelte Christaller in seinem Modell eine Theorie über die Einzugsbereiche zentraler Orte. Die optimale Versorgung aller Punkte wäre demnach in einem mehrfach geschachtelten Hexagonal-Schema gewährleistet: Christaller identifizierte sechs verschiedene Hierarchieebenen zentraler Orte mit unterschiedlichen Gütern und Reichweiten, die jeweils aufgrund der oberen Grenze der Reichweite in unterschiedlicher Entfernung angeordnet sein müssen.
Der Hauptort der höchsten Stufe A hat in unmittelbarer Nachbarschaft, weil er sämtliche Güter und Dienstleistungen anbietet, nur Orte der niedrigsten Hierarchiestufe F in einer Entfernung von 7 km. Auf einem nächsten Ring, etwa 12 km entfernt, folgen Orte der zweitniedersten Stufe E usw. Je weiter ein Ort vom ‚zentralen Ort‘ (‚A‘) entfernt ist, umso breiter ist das in ihm vorhandene Angebot an Waren und Dienstleistungen, umso höher seine Zentralitätsstufe. Das Zentrale-Orte-Modell war von großer Bedeutung für die Hierarchisierung von Städten in der Raumordnung und Regionalplanung; noch heute stützt sich das Klassifizierungsmodell von Ober-, Mittel- und Unterzentren und die damit verbundene Zuordnung bestimmter Funktionen zu einzelnen Orten auf die Theorie der zentralen Orte von Christaller.37
Im Hinblick auf die historische Herausbildung eines räumlich hierarchisch organisierten Städtesystems geht das Modell im Prinzip davon aus, dass im Rahmen einer zunehmend dichter besiedelten und intensiver kultivierten Landschaft Überschüsse der agrarischen Produktion entstehen. Diese Überschüsse suchen nach Absatz auf Märkten und daraus bildet sich im Wege der Arbeitsteilung und der Notwendigkeit unterschiedlicher Absatzgebiete eine Hierarchie von Städten heraus. Ein solches Modell kann die Entstehung von Markt- und Amtsstädten in einem primär agrarischen Kontext gut erklären, versagt aber im Hinblick auf die weiter oben aufgezeigte bipolare Struktur und Cluster-Bildungen im europäischen Städtesystem. Nach Christaller dürfte es solche räumliche Konzentrationen großer Städte eigentlich nicht geben.
Kritik an Christallers Konzept macht sich einmal an seinen Modellprämissen fest: ‚Nutzen‘ lag für den mittelalterlichen Menschen nicht nur in Geld oder der Ersparnis [<<60] von Zeit und Arbeitskraft, sondern konnte durchaus auch im Besuch heiliger und besonders bedeutsamer Orte liegen. Christallers Konzept beachtet zweitens die Pluralität von Gründungsmotiven von Städten nicht hinreichend. Städte wurden auch aus politisch-militärischen Interessen, etwa zur Sicherung strategisch wichtiger Punkte gegründet; Untertanen wurden durch die Monopolisierung bestimmter wichtiger Dienstleistungen (z. B. Gerichte) an bestimmten Orten genötigt, diese aufzusuchen. Dritter Kritikpunkt ist die Annahme räumlicher Homogenität: Tatsächlich hat die Topografie deutlich verzerrende Wirkung; an einem Bergpass, wo ein Ausweichen auf andere Routen kaum möglich ist, liegen Siedlungen, auch wegen der schwierigeren Wegverhältnisse und niedrigeren Reisegeschwindigkeiten zwangsläufig dichter beisammen als auf einer wenig Hindernisse bietenden Ebene. Die Lage an einem Meereshafen eröffnet potenziell ein sehr viel größeres Versorgungshinterland als ein Standort im Binnenland. Schließlich vernachlässigt das Modell auch den Aspekt, dass Besorgungen in der Regel gekoppelt wurden – auch eine Art der Nutzenmaximierung, sodass Angebote einer zentraleren Hierarchiestufe dann genutzt wurden, wenn aus anderen Gründen dieser Ort ohnehin aufgesucht werden musste.38
Dennoch behält die Theorie der zentralen Orte von Christaller in vielen Fällen beachtliche Erklärungskraft; Paul Hohenberg und Lynn Lees schlagen daher vor, diese Theorie komplementär mit der Netzwerk-Theorie zu verwenden.39 Die Netzwerk-Theorie geht davon aus, dass dem Fernhandel auch über den tiefen Einschnitt des Frühmittelalters eine recht erhebliche Bedeutung zukommt. Städte werden hier nicht als inselartige, allein auf ihr Umland bezogene Sammel- und Verteilerorte verstanden, sondern vielmehr als Glieder in einer großräumlichen, zunehmend ganz Europa übergreifenden Kette von Handels- und Transportbeziehungen, die auch aus den Handelszentren des Nahen Osten gespeist wurden. Diese Glieder sind aber bis zu einem gewissen Grad flexibel und austauschbar; je nach lokaler Lage sucht sich der Handel neue Wege, umgeht Kriegs- und Katastrophengebiete, wertet neue Städte auf und lässt alte Emporien absinken. Dies zeigte sich etwa im Wechsel von der bis ins 11. Jahrhundert für den Handel zwischen Oberitalien und Nordeuropa präferierten Rheinschiene auf die Route durch Frankreich und die Messen der Champagne, von wo aus sich der Handel angesichts der massiven Störung durch den Hundertjährigen Krieg im 14. Jahrhundert wieder stärker nach Deutschland verlagerte.40 Der [<<61] Fernhandel entfaltete somit über als gateway fungierende Städte eine die Zuordnung von Städten zueinander und die Herausbildung eines bipolaren, funktional integrierten Städtesystems insgesamt bestimmende Kraft. Diese Grundstruktur behielt über viele Jahrhunderte, obwohl die Funktion vorrangiger gateway-Städte wechseln konnte, eine bemerkenswerte Kraft. Als prototypische gateway-Stadt für das Mittelalter bieten Hohenberg und Lees Venedig an.
Venedig- die gateway-Stadt
Die Lagunenstadt entwickelte sich von bescheidenen Anfängen seit dem 6. Jh. auf einer Reihe von Inseln vor allem zur Vermittlerin zwischen dem italienischen Festland und dem Oströmischen Reich. Der Raub der angeblichen