Werner Wicki

Entwicklungspsychologie


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konstruiert) in Raum und Zeit (Thelen/Smith 2006). Die Determinanten (Bestimmungsfaktoren) der Entwicklung sind dabei nicht nur im Individuum (z.B. auf genetischer, physiologischer, perzeptiver, kognitiver, emotionaler und motivationaler Ebene) zu suchen, sondern genauso auf der Ebene seiner sozialen und physikalischen Umwelt.

      Bestimmte motorische Leistungen (Gehen, Greifen) sind beispielsweise gleichzeitig von der Wahrnehmung, der Muskelentwicklung, dem Körpergewicht und den äußeren (Test-)Bedingungen abhängig. Gerade weil diese einzelnen Bereiche (Subsysteme) miteinander in Wechselwirkung stehen, ist eine systemtheoretische Betrachtung der Entwicklung unumgänglich.

      Der Mensch wird in seiner Entwicklung als ein sich selbst organisierendes, offenes und nicht lineares System betrachtet. Es gibt keinen vorgefertigten Plan, der die Entwicklung steuern würde, und es gibt kaum monokausale Erklärungen für das Ergebnis einer Entwicklung (Thelen/Smith 2006).

      kollektive Variablen

      Zentraler Bestandteil der Theorie sind die sogenannten kollektiven Variablen, deren Veränderungen über die Zeit beobachtet werden (z.B. Wortschatzerwerb, visuell gesteuertes Greifen).

      Attraktoren

      Die Aufgabe der Entwicklungspsychologie besteht sodann darin, die bevorzugten Zustände (Attraktoren) der kollektiven Variablen sowie die dynamischen Übergänge von einem Attraktor zum nächsten (z.B. den Übergang vom Kriechen zum Gehen) auf verschiedenen Ebenen genau zu beschreiben.

      Kontrollparameter

      Die Veränderungen in kollektiven Variablen werden durch bestimmte Bedingungen, sogenannte Kontrollparameter, beeinflusst. Es ist somit entscheidend, die innerhalb oder außerhalb des Organismus liegenden Kontrollparameter der beschriebenen Veränderungen zu finden. Das ist keineswegs einfach, aber ist es einmal gelungen, kann der Parameter experimentell eingesetzt werden.

       Studie

      In einer Studie mit 9 Monate alten Kindern bestand die kollektive Variable in der Fähigkeit, bei durchsichtigen Behältern die Öffnung zu suchen und durch diese zu greifen (Thelen/Smith 2006). Das kann ein Kind dieses Alters normalerweise nicht, d. h., es versucht direkt zuzugreifen.

      Man hat nun den Kindern durchsichtige Behälter zum Spielen gegeben. Dadurch wurden sie mit dem Problem vertraut, dass sie den darin sichtbaren Inhalt nur durch die Öffnung des Behälters – also meist trotz direkten Sichtkontakts – nicht direkt, sondern seitlich oder von oben ergreifen konnten. Der Kontrollparameter war in dieser Studie die Übung des Kindes mit den speziellen durchsichtigen Behältern.

      stabile vs. labile Zustände

      Veränderungen können insbesondere in der frühen Kindheit in sehr kurzen Abständen erfolgen. Longitudinalstudien (→ Kap. 2.2) müssen deshalb innerhalb kurzer Zeit viele Messungen beinhalten, um die Veränderungsreihe adäquat zu beschreiben.

      In der Adoleszenz und später laufen Veränderungen häufig nicht mehr so schnell ab, die Messungen können deshalb auch in größeren Abständen erfolgen. Sneed und Kollegen (2007) untersuchten beispielsweise die Übernahme der Erwachsenenrolle in bestimmten Lebensbereichen (Finanzielles, Wohnen, Liebesbeziehung) bezogen auf den retrospektiv erhobenen Zeitraum vom 17. bis 27. Lebensjahr und stellten systematische Wechselwirkungen zwischen den Bereichen fest.

      Die dynamische Systemtheorie ist eine hervorragende entwicklungspsychologische Rahmentheorie, die jedoch spezifische Theorien, etwa im Bereich der kognitiven oder der emotionalen Entwicklung, nicht überflüssig macht.

      2.1.4 | Anlage und Umwelt

      Wenngleich die Anlage-Umweltkontroverse heute beigelegt und aus systemtheoretischer Sicht auch obsolet ist, so sind diesbezüglich dennoch einige Bemerkungen im Rahmen dieses Kurzlehrbuchs sinnvoll:

      images Der genetische „Einfluss“ auf die Entwicklung besteht in der zeitlich mehr oder weniger befristeten Aktivität der Gene in den Zellen, die mit der von ihnen angeregten Proteinsynthese sowie mit komplexen biochemischen Prozessen innerhalb und außerhalb der Zelle und einer Reihe weiterer (z.B. neuronaler) Prozesse interagieren (Johnston/Edwards 2002, → Abbildung 2.1). Über einige Umwege hat das Verhalten des Individuums selbst einen Einfluss auf die Genaktivität (Johnston/Edwards 2002). Das bedeutet, dass Gene und Verhalten in einer letztlich nicht auflösbaren Wechselwirkung miteinander verbunden sind.

      images Die meisten psychischen Eigenschaften werden nicht durch einzelne, sondern durch mehrere Gene beeinflusst, im Gegensatz zu einigen Krankheiten für deren Entstehung ein einziges Gen verantwortlich ist. Bei der Phenylketonurie beispielsweise fällt wegen eines defekten Gens die Produktion eines Enzyms aus, das wiederum ein Eiweiß (Phenylalin) umwandeln sollte.

      images Bei einer Reihe von Krankheiten nimmt man heute eine multigenetische Vererbung an (z.B. bei diversen Organtumoren, Schizophrenien). Wenn in der eigenen Verwandtschaft solche Krankheiten vorkommen, besteht ein erhöhtes Erkrankungsrisiko. Ob ein Individuum von der Krankheit betroffen ist, hängt aber von zusätzlichen Faktoren, etwa den Ernährungsgewohnheiten oder den Stressbelastungen, ab.

      images Auch Persönlichkeitseigenschaften und geistige Fähigkeiten (z.B. Intelligenz) sind multi- oder polygenetisch beeinflusst. Um bei solchen Merkmalen entscheiden zu können, wie hoch Anlage- und Umwelteinflüsse sind, wurden spezielle populationsgenetische Datenerhebungs- und Analysemethoden eingesetzt (insbesondere Zwillingsstudien), die hier nicht näher erläutert werden.

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      Anlage-Umwelt-Kovariation

      Die Erblichkeit (der Einfluss der Gene) steigt im Verlauf der Entwicklung (Plomin 1986). Getrennt aufwachsende Geschwister und eineiige Zwillinge werden sich im Verlauf von Kindheit, Jugend- und Erwachsenenalter ähnlicher. Auch Adoptivkinder gleichen sich mit zunehmendem Alter ihren biologischen Eltern an.

      Intuitiv würde man wohl das Gegenteil annehmen, dass Umwelteinflüsse im Verlauf des Lebens immer wichtiger und stärker werden und die Anlage beim Neugeborenen und in der frühen Kindheit am stärksten zum Ausdruck kommt. Um diese Befunde zu erklären, ist ein Modell notwendig, das sowohl Anlage- als auch Umwelteinflüsse gleichzeitig einbezieht. Es sei hier der Erklärungsansatz von Plomin (1986) vorgestellt, der drei Anlage-Umwelt-Kovariationstypen beschreibt:

      images In der Ontogenese am frühesten zu beobachten ist die passive Anlage-Umwelt-Kovariation. Das Kind trifft auf eine Umwelt, die ihm (seinem Genotyp) mehr oder weniger entspricht. Entspricht sie ihm, so ist die Kovariation gegeben, sonst nicht. Das Kleinkind kann sich dem Angebot noch kaum entziehen und die Angebote noch nicht selber gestalten.

      images Die evokative Anlage-Umwelt-Kovariation liegt vor, wenn das Kind aufgrund seiner (genetisch mitbedingten) Eigenart gewisse Angebote auslöst. Das sportliche, bewegliche Kind erhält zum Beispiel Sportgeräte, das technisch begabte Kind einen Werkzeugkasten etc.

      images Die aktive Anlage-Umwelt-Kovariation besteht darin, dass das Kind und der Jugendliche selber Tätigkeiten, Objekte etc. auswählt, die seinem Genotyp entsprechen.

      2.2 | Methoden