Peter Zimmermann

Einführung Psychotraumatologie


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werden alle Reserven des Körpers mobilisiert, um die massive Belastung kompensieren zu können. So kommt es physiologisch etwa zur Produktionssteigerung von Nebennierenhormonen wie Cortisol und zur Erhöhung des Blutzuckerstoffwechsels (Kapitel 1.7).

      Dekompensation wichtiger Funktionen

      Dauert der pathogene Umweltreiz, der „Stressor“, wie Selye ihn nannte, weiter an, so treten massive und zum Teil irreversible Folgen wie Dekompensation der Reproduktionsfunktionen und Sexualfunktionen, der Wachstumsvorgänge und der Immunkompetenz (Erschöpfungsstadium) auf.

      Stressreaktion

      Eine 28-jährige verheiratete Frau arbeitet als Chefsekretärin in einem großen Konzern. Sie begibt sich zu ihrem Hausarzt, da sie seit einigen Monaten unter Symptomen leidet, die ihr zunehmend Besorgnis bereiten. So ist sie häufig, insbesondere vor großen Besprechungen, sehr angespannt und nervös, leidet unter Herzklopfen und schwitzt stark. Zusätzlich sieht sie dann verschwommen und empfindet ein schwankendes Schwindelgefühl, das meist noch einige Stunden danach andauert Nach einer organischen Ausschlussdiagnostik berät der Arzt sie dahingehend, ihre Arbeitsprozesse klarer zu strukturieren und Aufträge, für die sie nicht zuständig ist, konsequent abzulehnen. Zudem soll sie sich mehr bewegen und ein Entspannungstraining erlernen.

      Nach sechs Monaten stellt sie sich erneut vor. Sie habe die Hinweise „aus Zeitmangel“ nicht umsetzen können. Sie sei nun täglich schon während der Arbeit erschöpft, fühle sich ständig unter Druck, sie schlafe nicht mehr richtig, sei immer wieder erkältet und auch die Sexualität mit ihrem Partner habe deutlich nachgelassen. Der Hausarzt empfiehlt nun die Durchführung einer Kur.

      Die Untersuchungen Selyes haben sich auf die Erforschung der Psychosomatik innerer Krankheiten sehr fruchtbar ausgewirkt. Da Selye auch schon psychologische Symptome beschrieben hat, die dem physiologischen Stressverlauf entsprechen, hat diese Forschungsrichtung insgesamt einen wichtigen Beitrag zu einer psychologischen und psychosomatischen Traumatologie geleistet.

      Für die Traumaforschung wertvoll regte das Modell zur Analyse von Umweltfaktoren an, allerdings wurden erst sehr viel später, z. B. im sog. „transaktionalen Stressmodell“ nach Lazarus und Folkman (1984), subjektive „Vermittlungsgrößen“ wie z. B. Abwehr- und Copingprozesse berücksichtigt. Es entstand eine Forschungsrichtung, die sog. „Stress- und Coping-Forschung“, in der sich kognitiv-behaviorale Ansätze mit Konzepten der Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen aus der psychoanalytischen Ich-Psychologie verbinden.

      Prävalenz der PTBS

      Die Angaben zur Prävalenz der PTBS schwanken in der Literatur zwischen 1,3 % bis 7,8 % der Allgemeinbevölkerung (Kessler et al., 1995), wobei bei Frauen von einer doppelt so hohen Inzidenzrate wie bei Männern ausgegangen wird (10 % vs. 5 %). Der aktuelle Deutsche Gesundheitssurvey beziffert die 12-Monats-Prävalenz für PTBS mit 2,4 %, wobei Frauen (3,8 %) deutlich häufiger betroffen sind als Männer (0,95 %) (Wittchen & Jacobi, 2012). Dieser geschlechtsspezifische Befund wurde in einer Reihe von Studien belegt. Die höhere Prävalenzrate bei Frauen begründen Kessler et al. (1995) damit, dass diese mehr schwerwiegende traumatische Ereignisse erleben (z. B. Kindesmisshandlung, Vergewaltigungen). Eine ebenfalls höhere Prävalenz des weiblichen Geschlechts konnte von Giaconia et al. (1995) unter Kindern und Jugendlichen festgestellt werden. Die Lebenszeitprävalenz bei 14- bis 18-jährigen Jugendlichen liegt zwischen 5 % und 10 % (Elklit, 2002). Bei 2- bis 5-jährigen Kindern wurde eine Prävalenzrate von 0,1 % ermittelt (Lavigne et al., 1996). Diese niedrige Rate spricht für eine mangelnde Adaptation der PTBS-Kriterien an das Kleinkindund Vorschulalter.

      Die generellen Schwankungen in den Studien hängen mit der unterschiedlichen Verwendung der Diagnosekriterien und den verschiedenen Erhebungsbedingungen zusammen. In einer israelischen Untersuchung wurde die Diagnose bei Erwachsenen z. B. nur bei 3 % der Betroffenen vom Hausarzt gestellt (Taubman-Ben-Ari et al., 2001).

      Abhängigkeit vom Situationstyp

      Die PTBS entwickelt sich nach traumatischen Erfahrungen also unterschiedlich häufig (Flatten et al., 2011), wobei die Wahrscheinlichkeit hierfür auch von der Art des traumatischen Situationstyps abhängt. Exemplarisch zeigt die folgende Aufstellung die mögliche Spannbreite (Flatten et al., 2011):

      images ca. 50 % Prävalenz nach Vergewaltigung;

      images ca. 25 % Prävalenz nach anderen Gewaltverbrechen;

      images ca. 50 % bei Kriegs-, Vertreibungs- und Folteropfern;

      images ca. 10 % bei Verkehrsunfallopfern;

      images ca. 10 % bei schweren Organerkrankungen (Herzinfarkt, Malignome).

      Eine mögliche genetische Ätiologie des Störungsbildes wurde explizit kontrolliert in einer Untersuchung von Goldberg et al. (1990) an eineiigen Zwillingen, von denen jeweils einer am Vietnamkrieg teilgenommen hatte. Die Autoren fanden eine Prävalenzrate von ca. 17 % unter den Kriegsteilnehmern im Verhältnis zu 5 % in der Vergleichsgruppe. Wurden nur diejenigen Zwillinge in den Vergleich einbezogen, die einem hohen Niveau von Einsatzstress ausgesetzt waren, so stieg die PTBS-Rate in der Untersuchungsgruppe auf das Neunfache der Kontrollgruppe an.

      Grundsätzlich muss mit einer relativ breiten interindividuellen Variation bei der Verarbeitung potenziell traumatischer Situationen gerechnet werden. Wie die Zwillingsstudie nahelegt, bewegt sich der erbgenetisch determinierte Varianzanteil dabei innerhalb enger Grenzen. Umso wichtiger erscheint es auch unter präventiven Gesichtspunkten, dem differenziellen Verlauf der traumatischen Reaktion und den Bedingungen für ihren Übergang in chronische Verläufe, d. h. in den sog. traumatischen Prozess, verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen (Kap. 1.5 und 1.6).

      Traumatische Ereignisse werden von bis zu 84 % der Bevölkerung zumindest einmal erlebt (Lebenszeitprävalenz) (de Vries & Olff, 2009). Zu psychischen Folgeerkrankungen kommt es allerdings nur bei einer Minderzahl der Betroffenen. Selbst bei schweren Traumatisierungen wie Bürgerkriegen oder Vergewaltigungen, bleiben 50 % und mehr psychisch gesund (S3-Leitlinie PTBS; Flatten et al., 2011) (Kap. 1.6).

      Die Frage nach gesund oder krank hängt wesentlich mit der individuellen Konstellation vielfältiger Schutz- und Risikofaktoren zusammen, angefangen bei den Kontextfaktoren der traumatischen Situation (Bedrohlichkeit, individuelle Bedeutung etc.), biografischen Dispositionen, aber auch der Ressourcenlage der Traumaopfer (zur Bedeutung von Ressourcen siehe auch Kap. 3).

      Gut ausgebildete Ressourcen können die Entstehung psychischer Erkrankungen nach Belastungen verhindern oder deren Folgen zumindest abmildern. Sie umfassen beispielsweise Kompetenzen wie die Aufmerksamkeits- und Impulskontrolle sowie Stressbewältigungs-(Coping-)Strategien, die Wahrnehmung und den Umgang mit Emotionen und Körperfunktionen, die Fähigkeit zum Umgang mit Anspannung (zum Beispiel durch Anwendung aktiver Entspannungstechniken) oder auch soziale Kontakte und Kompetenzen.

      Insbesondere bei Einsatzkräften wie Polizei, Feuerwehr oder Bundeswehr, aber auch in bestimmten Berufszweigen (z. B. Lokführer) sind traumatische Erlebnisse ein mehr oder weniger vorhersehbarer Teil des Berufsbildes. Für die Ausbildung und Versorgungsplanung dieser Professionen ist daher die Berücksichtigung