Peter Zimmermann

Einführung Psychotraumatologie


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um eine Retraumatisierung zu vermeiden?). Diese Komponenten sind logisch aufeinander bezogen, basieren aber schon auf einer traumatischen Erfahrung, die entsprechend ihrer Speicherung im Traumaschema nur unvollständig zugänglich ist und in wichtigen Teilaspekten oft nur implizit erinnert werden kann. Von daher erwecken die traumakompensatorischen Maßnahmen einen – von außen betrachtet – irrationalen, unzweckmäßigen Eindruck, während es sich, gemessen am gegebenen Informationsstand, um subjektiv sinnvolle Maßnahmen handelt.

      Traumakompensatorisches Schema nach sexualisierter Gewalt

      (nach Bering et al., 2004)

      Eine 36-jährige Frau wurde Opfer sexualisierter Gewalt. Mit dem alkoholisierten Täter war sie freundschaftlich verbunden. Er sei ihrer Meinung nach „verrückt“ geworden. Kindheitserinnerungen werden geweckt. Sie entwickelt das Vollbild einer PTBS, das von einer schweren depressiven Reaktion begleitet ist. Albträume quälen sie. Zu Hause ist sie sozial gut eingebettet; nur dort fühlt sie sich wohl. Außenkontakte meidet sie. Eine stationäre Behandlung lehnt sie wegen ihrer 4-jährigen Tochter ab; sie ist ihr Lebensinhalt.

      Zehn Wochen nach dem Ereignis, nach dem Durchlaufen der Einwirkphase, befindet sie sich in der Phase der Verfestigung des traumatischen Prozesses. Die Situationsdynamik ist gekennzeichnet vom subjektiven Erleben der Patientin, eine vertrauensvolle Beziehung zum Täter aufgebaut zu haben. Auf der objektiven Seite jedoch wurde sie von ihm vergewaltigt. Die Dynamik des Traumaschemas besteht daher aus der Diskrepanz dieser beiden Situationsfaktoren („Vertrauen fassen vs. Enttäuschung erleben“). Nun setzt der Schutzreflex des Traumakompensatorischen Schemas ein mit seinen drei Anteilen (Ätiologie, Prävention, Reparation).

      Ätiologisch: Um sich erklären zu können, wie sie sich in ihrer Wahrnehmung so täuschen konnte, führt die Patientin das Psychotrauma auf einen Ausnahmezustand des Täters zurück, indem sie ihn situativ für „verrückt“ erklärt. Somit kann sie die guten Beziehungsanteile schützen.

      Präventiv: Um nicht noch einmal Opfer einer Gewalttat zu werden, zieht sie sich in ihr häusliches Umfeld zurück und meidet Beziehungen zu anderen Menschen (außer zu ihrer Tochter), damit sie nicht wieder enttäuscht wird.

      Reparativ: Die 4-jährige Tochter der Patientin ist Lebenssinn und Heilungstherapie gleichzeitig für ihre seelischen Verletzungen. Sie erholt sich über ihr Selbstbild als „gute Mutter“.

      Zwischen Spannungsfeld von Traumaschema und Traumakompensatorischem Schema entsteht die Symptomatik der PTBS vom depressiven Verlaufstypus.

      Die Psychobiologie trauma-induzierter Störungsbilder, das heißt die Interaktion psychischer und pathophysiologischer Prozesse und Veränderungen nach traumatischen Erlebnissen, ist durch ein komplexes Geschehen gekennzeichnet, das vielfältige Regelsysteme des Hirn- und hormonellen Stoffwechsels umfasst Die maßgeblichen Zusammenhänge werden bis heute trotz umfangreicher Forschungsarbeiten noch nicht vollständig verstanden.

      Um einen ersten Überblick zu erleichtern, erfolgt an dieser Stelle im Rahmen dieses einführenden Beitrags eine Beschränkung auf die Posttraumatische Belastungsstörung als Traumafolgestörung, über die in diesem Bereich auch die fundiertesten Erkenntnisse vorliegen.

      Zur Vertiefung liegen detaillierte Reviews aus jüngster Zeit vor:

      Sherin & Nemeroff, 2011; Marinova & Maercker, 2015

      Die wesentlichen, einer Posttraumatischen Belastungsstörung zuzuordnenden Veränderungen finden sich in den folgenden Bereichen:

      images (neuro-) hormonale Effekte;

      images funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und Positronen-Emissionstomographie (PET);

      images (Epi-) Genetik.

      Im Mittelpunkt (neuro-) hormonaler Veränderungen nach Traumatisierung stehen die Katecholamin- (insbesondere Noradrenalin) und die Cortisolregulation.

      vermehrte Noradrenalinausschüttung

      Es kommt zu einer Hoch-Regulation der Plasmaspiegel des Stresshormons Noradrenalin, die zu sekundären Folgen wie gesteigerter Wachsamkeit und Nervosität (Hypervigilanz), Impulsivität, erhöhtem Blutdruck (Hypertonie) und Herzrasen (Tachykardie) führen kann. Diese wiederum tragen zu einer erhöhten Häufigkeit von Herzerkrankungen bei der PTBS bei, letztlich auch zu einer erhöhten Sterblichkeit (Mortalität) im Langzeitverlauf (S3-Leitlinie PTBS; Flatten et al., 2011).

      Hypocortisolismus

      Demgegenüber wird die Ausscheidung von Cortisol unterdrückt (Hypocortisolismus), mit der Folge reaktiv erhöhter Level an Corticotropin Releasing Hormon (CRH). Da Cortisol die Noradrenalin-Ausscheidung hemmt, führt der Cortisol-Mangel dementsprechend zu einer ungezügelten Ausscheidung (Disinhibition) von Noradrenalin und verstärkt dessen negative Folgen.

      Weitere Regelsysteme, die sich nach Traumatisierungen verändern, hier aber nicht detailliert wiedergegeben werden können, umfassen beispielsweise Dopamin, Serotonin, gamma-Aminobuttersäure (GABA), Glutamat, endogene Opioide und Neuropeptid Y.

      Zum Teil existieren zu diesen Veränderungen widersprüchliche Befunde, die auch mit den untersuchten Patientengruppen und traumatischen Ereigniskategorien zusammenhängen können.

      Eine Reihe von Studien konnte strukturelle und funktionelle Veränderungen des Gehirns nach Traumatisierungen nachweisen, die sich u. a. in der (funktionellen) Magnetresonanztomographie (fMRT) und der Positronen-Emissionstomographie (PET) abbilden ließen.

      Strukturell zeigten sich verminderte Volumina der Hippocampi, des linken Corpus amygdaloideum (Mandelkern) und anterioren cingulären Cortex sowie der linken Insel und des rechten Gyrus parahippocampalis (Meng et al., 2014).

images

      Bahnbrechend für die neurobiologische Modellbildung waren Untersuchungen mithilfe der Positronen-Emissionstomographie. Hiernach war unter experimentell induzierten szenischen Erinnerungen an ein Trauma (Flashbacks) besonders das Broca-Areal (motorisches Sprachzentrum) in seiner Aktivität unterdrückt und die Mandelkernregion (Corpus amygdaloideum) der rechten Gehirnhälfte besonders aktiv (Kosslyn et al., 1996).

      Diese Befunde decken sich mit dem klinischen Phänomen, dass viele Traumatisierte das Geschehen oft nur bildhaft wiedererleben, nicht in Worte fassen können und immer wieder von einem Zustand wortlosen Entsetzens („speachless terror“) ergriffen werden.

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      Parallel zu diesen Befunden waren im funktionellen MRT unter Reizexposition verminderte Aktivitäten des linken Hippocampus und Gyrus parahippocampalis auffällig. Diese Region ist an der emotionalen Bewertung und Einordnung eingehender (auch belastender) Sinneseindrücke beteiligt und damit für eine gesunde Reizverarbeitung unentbehrlich. Interessant war die Beobachtung, dass einige dieser Veränderungen unter kognitiv-behavioraler Stabilisierungsbehandlung im Gruppensetting rückläufig waren, also offenbar psychotherapeutisch beeinflussbar sind (Thomaes et al., 2012). Dieser Befund korrespondiert mit der Beobachtung, dass Patienten unter erfolgreicher Therapie trauma-bezogene Emotionen klarer wahrnehmen und benennen und dadurch die traumatische Erfahrung besser verstehen und in ihren Erlebnishorizont einordnen können.

      Bei