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2.2 Altersverteilungen
Die folgende „echte“ Bevölkerungpyramide – die man heute in dieser Form nur noch in sehr niedrig entwickelten Ländern wie z.B. Äthiopien findet – illustriert die Bevölkerungsverteilung im Deutschen Reich im Jahre 1910. Man kann beim Lesen vieler Medienbeiträge zum Thema Bevölkerungsverteilung oft den Eindruck nicht vermeiden, dass eine solche Verteilung, die u.a. viele junge potenzielle Arbeitskräfte und Konsumenten darstellt, wünschenswert sei.
Tatsächlich implizierte eine Pyramidenstruktur aber bei den aktuell niedrigen Geburtenzahlen direkt, dass in jeder Alterskohorte viele Vertreter durch Krankheit o.Ä. ausscheiden – etwas, das wir nicht einmal zu wünschen wagen sollten. Eine „wünschenswerte“ Verteilung bei hoher Lebenserwartung sähe somit eher einem sich leicht verjüngenden Hochhaus mit einer Spitze in den sehr hohen Jahrgängen ähnlich. Die Pyramidenstruktur der deutschen Bevölkerung im Jahre 1910 ist hauptsächlich durch die hohen Geburtenraten während der davorliegenden Jahrzehnte begründet.
Bevölkerungspyramide Deutschland 1910 (Quelle: Statistisches Bundesamt[22])
Die folgende Darstellung illustriert den Vergleich der Bevölkerungsverteilung Deutschlands aus dem Jahre 1950 sowie 2018, wobei Letztere grafisch an den oft erwähnten zerzausten Weihnachtsbaum erinnert. In beiden Darstellungen ist klar ersichtlich, dass es während des II. Weltkrieges zu einem Geburtensprung kam. Rechts ist schließlich eine Prognose (unter ceteris paribus-Annahmen, die genauestens studiert werden sollten) für das Jahr 2060 angefügt.1
Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland 2010, 2018 vs. Prognose 2060 (Quelle: Demografie-Portal[23])
Die Prognose für 2060 in Abb. 2.2 unterschied sich kaum von ähnlichen Vorhersagen im Sommer 2015: Tatsächlich hat der massenhafte Zustrom von zumeist jungen Flüchtlingen nach Deutschland seit dem Sommer 2015 diese zukünftige Bevölkerungsstruktur verändert und auf den ersten Blick „verbessert“ (wenn auch mit einem leichten Übergewicht auf der männlichen Seite).
Beachten Sie hier, dass BevölkerungspyramideBevölkerungspyramiden, die anhand vergangener Volkszählungen erstellt werden, nur einen Eindruck über die Altersschichtung einer Bevölkerung vermitteln können; Aussagen dazu, wer Kinder bekommt und welche Bildungs- und späteren Arbeitsmarktchancen diese Kinder haben werden, liefern sie nicht.
Punktschätzungen bzw. -voraussagen für zukünftige Bevölkerungen sind, da sie fast immer auf ceteris paribus-Annahmen beruhen, somit mit äußerster Vorsicht zu genießen. Vernünftiger ist es in jedem Fall, in unterschiedlichen Szenarien zu denken und dabei zu versuchen, sich weitere Konsequenzen der im Szenario enthaltenen zukünftigen Einzelzustände vor Augen zu führen und zu bewerten.
2.3 Bevölkerungsszenarien
Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis 2060 (Quelle: Umweltbundesamt)
Abb. 2.3 illustriert mögliche Szenarien der Bevölkerungsentwicklung Deutschlands, die mit dem vorhandenen Wissen im Jahr 2009, also 6 Jahre vor Beginn der Flüchlingskrise, erstellt wurden. Wie bei Sensitivitätsanalysen im Bereich Investition und Finanzierung wurde hier an diversen Eingangsgrößen, wie Auslandsmigration, Fertilität und Lebenserwartung, variiert bzw. „gespielt“. Die Forscher hielten eine Obergrenze der Bevölkerung (grafisch die gelbe Linie) und eine Untergrenze (die blaue Linie) für möglich: Sie schätzten also, dass sich die Bevölkerung Deutschlands im Jahr 2019 zwischen etwa 78 und 81 Millionen Menschen befinden würde. Tatsächlich hatte Deutschland im Jahr 2019 ca. 83 Millionen Einwohner! Abzüglich des Sondereffektes Migration aus dem Nahen Osten und Afrika seit 2015 lag die Bevölkerung Deutschlands im Jahr 2019 also immer noch etwa eine Million Menschen höher als im oberen Szenario aus dem Jahr 2009. Bewahren bzw. entwickeln Sie also eine gewisse Skepsis gegenüber Prognosen über lange Zeiträume.
Um hier einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Diese Abweichungen haben nichts mit mangelnder Kompetenz der Demografen, die diese Szenarien gerechnet haben, zu tun. Geändert hatten sich die Fakten. Die o.g. Skepsis gilt notwendigerweise auch für alle Vorhersagen von Klimamodellen jedweder Qualität. Das Wissen darum sollte aber unabhängig davon sein, dass wir „vernünftig“ mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen umgehen. Der Mathematiker Keynes argumentierte übrigens vor einem Menschenalter im Unterschied zu allen mir bekannten Strömungen in der modernen Ökonomie, dass man „bei der Untersuchung eines Problems nicht von vornherein annehmen [solle], eine quantitative Analyse sei die angemessene Strategie, sondern genau andersrum verfahren: annehmen, dass man sie nicht nutzen kann, und sich rechtfertigen, wenn man es trotzdem tut.“[25] Beachten Sie, dass wir praktisch überall seit mehr als zwei Jahrzehnten den Gegenweg beschreiten; indem wir versuchen, Qualität durch Kennzahlensysteme zu messen (s. auch die Ausführungen zu Mathias Binswangers Buch „Warum wir immer mehr Unsinn produzieren“ in Kapitel 1.2).
2.4 Migration
Die AußenmigrationAußenmigration und damit die seit Jahrzehnten andauernde „Debatte“, die inzwischen qualitativ beantwortet scheint, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht, sowie die Diskussion, welche Migration erwünscht sein soll (und welche nicht), sind politisch wie wirtschaftlich äußerst sensible Themen. Weitgehender Konsens besteht lediglich darüber, dass die Einwanderungspolitik eines Landes Auswirkungen auf die Migranten selbst sowie auf die Entsenderländer wie auf die Empfängerländer hat.
Die Extrema unter den reichen Ländern bezüglich ihrer Ausländerquote sind die Vereinigten Arabischen Emirate (in Dubai leben derzeit ca. 95% Ausländer) und Japan, das kaum über Zuwanderung verfügt. Somit sollte auch Konsens darüber bestehen, dass der Ausländeranteil einer Gesellschaft allein keine ausreichende Argumentation liefert, um Schlussfolgerungen bezüglich der Auswirkungen von Migration auf die heimische Bevölkerung abzuleiten.
In nachfolgender Box sind die zentralen Aussagen des Buches Exodus: Warum wir Einwanderung neu regeln müssen des Oxforder Professors und früheren Forschungsdirektors der Weltbank, Paul Collier, kurz zusammengefasst (s. auch Kapitel 15).
Neben der fraglos ökonomischen Motivation von Migranten, ihre bzw. die Zukunft ihrer Kinder zu verbessern, ist Migration ein soziales Phänomen. Migration hat also ökonomische Ursachen