Dirk Linowski

Herausforderungen der Wirtschaftspolitik


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kann auch auf Staaten übertragen werden. Deutschland hatte Anfang 2020 im Gegensatz zu vielen EU-Partnern gut gefüllte Kassen und Deutschland konnte seine Unternehmen und Bürger somit deutlich besser unterstützen, als dies z.B. in den süd- und südostdeutschen EU-Staaten der Fall war. Deutschland und seine Unternehmen werden also a priori im Sinne eines „Macht-Nullsummenspiels“ durch die Corona-Krise in der EU stärker werden müssen; ganz sicher nicht zu jedermanns Begeisterung.

      Auf der Ebene der Volkswirtschaften wird seit Ende der 2010er Jahre ein Trend zur Deglobalisierung4 nicht nur beobachtet, sondern ebenso im öffentlichen Raum kommentiert: Damit wird stark vereinfacht ein wirtschaftspolitischer Kurs von Staaten oder Staatenbündnissen verstanden, die sich einer weiteren Weltmarktintegration (teilweise) „verweigern“ bzw. sich und ihre Wirtschaftssektoren mit protektionistischen Maßnahmen zu schützen versuchen. Wichtige Gründe der Deglobalisierung bestehen darin, dass sich die Kostenvorteile bei den Aufwendungen für Löhne in den einstigen „Billiglohnländern“ wie insbesondere China relativiert haben, ebenso die Erkenntnis, dass es in den entwickelten Ländern viele Globalisierungsverlierer gibt und das Erscheinen sogenannter populistischer Parteien, die Auswirkungen der strategischen Rivalität zwischen den USA und China u.v.m. Deutschland als Exportland von Investitionsgütern war bzw. ist dabei (noch) ein Profiteur von freiem oder gering reguliertem Welthandel. Es war somit bereits vor Ausbruch der Corona-Krise zu erwarten, dass eine Abschwächung der Weltkonjunktur in Verbindung mit protektionistischen Maßnahmen nicht nur der USA große Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Profitabilität zahlreicher deutscher Unternehmen haben wird. Diese Entwicklung wird nun mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit deutlich schneller werden.

      Wir werden also auch in der Wirtschaftspolitik lernen müssen, besser in Szenarien zu denken. Verweise auf Schwierigkeiten bei der Schätzung objektiver Wahrscheinlichkeiten bringen uns hier nicht weiter; notwendig wie hinreichend ist, dass eine Situation für möglich erachtet wird, um sich darauf entsprechend vorzubereiten.

      Ein übergeordneter Trend zur Monopolisierung bzw. Steigerung des Konzentrationsgrades wird ceteris paribus5 jedenfalls in Teilen der westlichen Volkswirtschaften beschleunigt. Dieser bleibt allerdings keinesfalls zwingend (vgl. Kapitel 7 zur Rolle des Staates und Kapitel 8 zu Wettbewerb und Regulierung). Wie oft lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Äußerst aufschlussreich ist hier die Beschäftigung mit der Entwicklung der Anti-Trust-Gesetzgebung und -rechtsprechung in den USA und den Auseinandersetzungen zwischen diversen US-Regierungen und Rockefellers Standard Oil Company von 1890 (Verabschiedung des Sherman-Acts) bis 1911 (endgültige Zerschlagung von Standard Oil).6 Ähnliches wäre um die Jahrtausendwende übrigens fast der damals als übermächtig wahrgenommenen Firma Microsoft passiert und wird in der Gegenwart immer wieder bezüglich Facebook, Amazon und Google diskutiert.

      Wie vor mehr als 100 Jahren gilt heute ebenso, dass Macht (fast immer) Geld sticht. Inwieweit der unterstellte Trend zur Monopolisierung tatsächlich übergeordneter Natur war, kann historisch also bezweifelt werden. Der Anteil der KMU in Deutschland bzw. der EU an der Gesamtbeschäftigung (ca. ⅔) sowie der Bruttowertschöpfung (ca. die Hälfte) war über Jahrzehnte näherungsweise konstant (vgl. Teil II). Grundsätzlich gilt in den modernen westlichen Gesellschaften unverändert, dass ein Unternehmen mindestens mittelfristig innerhalb einer existierenden (und sich verändernden) Rechtsordnung im schlechtesten Fall eine Schwarze Null erwirtschaften muss (zu Schulden von Staaten, Unternehmen und Haushalten siehe Kapitel 7, 8 und 14). Während zahlreiche kleine und mittelgroße Unternehmen im Servicebereich die Corona-Krise nicht überstehen konnten oder können werden, ist u.a. bereits absehbar, dass Amazon c.p. noch mächtiger wird.7 Um die Logik dieser Entwicklung zu sehen, müssen Sie die Eigenschaften und den Zusammenhang zwischen Erlösen, Fixkosten, variablen Kosten und Gesamtkosten sowie die Rolle von Schulden in Verbindung mit Zinsen im betriebswirtschaftlichen wie im gesamtwirtschaftlichen Kontext verstanden haben.

      In Deutschland waren seit dem Jahr 2010 recht stabil ca. ¾ der Beschäftigten im Dienstleistungssektor tätig, wobei die Gesamtbeschäftigung in dieser Dekade mit der Bevölkerung von 41,1 Mio. auf ein Allzeithoch von 45,3 Mio. im Jahr 2019 wuchs (die geleisteten Erwebsstunden pro Beschäftigten und die Quote der Selbstständigen waren dabei seit 2012 leicht rückläufig).

      Der Dienstleistungssektor umfasst Tätigkeiten, die Leistungen im sogenannten tertiären Wirtschaftssektor erbringen. Dazu zählen u.a. Buchhalter und Leichenbestatter, Kellner und Wirtschaftsprüfer, Polizisten und Krankenpfleger8 und grundsätzlich alle Dienstleisungen, die im öffentlichen Sektor erbracht werden. Es ist weitgehend deterministisch absehbar, dass Berufe, die auf persönlichem Kontakt beruhen, sich zumindest verändern werden bzw. dass „nach der Krise“ insbesondere in niedrig bezahlten Tätigkeiten wie im Hotel-, Gaststätten- und Tourismusgewerbe – also dort, wo enger persönlicher Kontakt nicht zu vermeiden ist – weniger Menschen tätig sein werden als zuvor. Vor allzuviel Optimismus der Hochschulabsolventen muss hier allerdings deutlich gewarnt werden! Empfohlen sei an dieser Stelle die Lektüre des Vater-und-Sohn-Buches von Richard und David Susskind aus dem Jahre 2017 „The Future of the Professions: How Technology Will Transform the Work of Human Experts“, in dem mögliche zukünftige Auswirkungen der Digitalisierung auf Anwälte, Lehrer und Professoren, Architekten, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer und einige weitere freie Berufe besprochen werden. Die Verfasser stellen dabei fest, dass fast alle Interviewpartner und Leser den Grundthesen des Buches zustimmten, aber gleichzeitig verneinten, selbst substanziell von der Digitalisierung betroffen zu sein. Es lohnt sich somit sehr, darüber nachzudenken, warum z.B. Ärzte glauben, dass Steuerberater im Gegensatz zu sich selbst einem rabiaten technologischen Wandel unterworfen sein werden und umgekehrt. Kognitionspsychologen verwenden hier den Begriff confirmation bias: Menschen nehmen bevorzugt Informationen auf, die ihre vorgefasste Meinung bestätigen bzw. ihre Erwartungen erfüllen. Anders ausgedrückt: Intelligenz und Bildung begünstigen a priori weder Erkenntnisfähigkeit noch die Fähigkeit zur Selbstkritik, sondern sie verstärken (wenn auch nicht immer) oft eigene Vorurteile.

      Status quo

      Deutschland stand Mitte des Jahres 2020 im internationalen Vergleich wirtschaftlich sowohl absolut als auch relativ gut da. Die vielgeschmähte Schwarze Null sorgte dafür, dass die Kassen der öffentlichen Hand und der meisten Sozialversicherungsträger gut gefüllt waren. Die ArbeitslosigkeitArbeitslosigkeit war im internationalen Vergleich gering, ProduktivitätProduktivität und Beschäftigungsquote befanden sich auf hohem Niveau.

      Tatsächlich war bereits Jahre vor der Corona-Krise in der Mitte der deutschen Gesellschaft eine tiefe Verunsicherung zu konstatieren, gepaart mit sozialen Abstiegsängsten der Mittelschicht. Dabei stellte die seit Sommer 2015 virulente Flüchtlingskrise in vielerlei Hinsicht einen Kristallisationspunkt dar, dies verbunden mit Fragen, in welcher Art von Gesellschaft wir und unsere Kinder zukünftig leben wollen. Blicke zu unseren europäischen Nachbarn (Stichwort u.a. Gelbwesten in Frankreich) zeigen uns, dass wir mit dieser Unsicherheit nicht allein sind.

      Bereits seit Beginn der 2010er Jahre mehren sich die Stimmen aus Wissenschaft und Medien, die die deutsche Gesellschaft vor zu viel Selbstgefälligkeit warnen und die – innerhalb von weniger als zwei Generationen – eine mehr oder weniger düstere Zukunft für unser Land zeichnen. Dabei hatten die „Entzauberung des Sommermärchens“9 und der seit Herbst 2015 andauernde und fünf Jahre später noch immer nicht vollständig bewältigte Abgasskandal, in den die deutschen „Vorzeigefirmen“ Volkswagen und Daimler verstrickt sind, sehr sicher die Qualitäten von Brandbeschleunigern. Nach etwa 25 Jahren relativer Ruhe in Europa befinden wir uns in zahlreichen Debatten bis hin zur Abschaffung des Bargelds, die vor allem eines zeigen: einen Mangel an Orientierung.

      Mehr geistige Vielfalt! Mehr Streit!

      Die Gesellschaft, also wir alle und am besten jeder selbst zuerst, wird kluge Gedanken brauchen, um zu erkennen, wie zukünftig die Wertschöpfung der Gesellschaft und die Verteilung des Wohlstandes beschaffen sein sollten.10

      Damit verbunden sein werden Forderungen von Zwangsenteignungen Superreicher (was auch immer superreich bedeutet), der Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens (von dem Dutzende sich stark unterscheidende Versionen kursieren) und hoffentlich davor eine in Breite und Tiefe qualifizierte Diskussion, die sich zentralen Fragen unseres Gemeinwesens widmet. Dazu werden die Rolle