für Wirtschaftswissenschaft geehrt. Bis zum Auftauchen entsprechender Rechentechnik war seine Arbeit weitgehend „nette Spielerei“, erst in den 1980er Jahre konnte sie praktisch angewandt bzw. umgesetzt und damit überprüft werden. Anfang der 2000er Jahre führte eine Arbeit zur Optimierung der Raum- und Stundenplanung an großen Gymnasien noch zu einem Doktorgrad der Wirtschaftswissenschaft an der FU Berlin. Eine Lösung dieses Problems sollte heute gut in einer Bachelorarbeit hergeleitet werden.
Nachdenken darüber, ob und inwieweit es Zusammenhänge zwischen dem Zusammenbruch der Sowjetunion und damit des Ostblocks und der Technologierevolution, die bereits einige Jahre zuvor im Westen eingeleitet wurde und die Ende der 1980er Jahre rasant Fahrt aufnahm (Stichwort Moore’s Law14), kann nicht Gegenstand der hiesigen Erörterungen sein. Tatsache war aber, dass der Zugang zu Millionen neuen potenziellen Kunden und neuen natürlichen Ressourcen bei dem gleichzeitigen Technologiesprung der Rechenleistung für westliche Firmen zeitlich zusammenfielen. In diese Zeit fällt die sprunghafte Entwicklung weltweiter Lieferketten. (Vorhergehende erfolgreiche Versuche internationaler Arbeitsteilung im größeren Maßstab datieren wiederum auf die frühen 1970er Jahre, als Singapur, Hongkong und Taiwan billige Kleidung und Spielzeuge nach Nordamerika und Westeuropa zu exportieren begannen. Zu genau dieser Zeit kamen übrigens die ersten Containerschiffe in Gebrauch. Mehr dazu in Kapitel 6.)
Jedes (wirtschaftswissenschaftliche) Modell ist eine vereinfachte Darstellung der Realität, das im Allgemeinen entweder darauf zielt, Vergangenes zu erklären und/oder Zukünftiges (hinreichend gut) zu prognostieren. Wir werden die Entwicklung des Welthandels in Verbindung mit den Konzepten der Opportunitätskosten und der komparativen Vorteile in Kapitel 5 und im Exkurs zu Kapitel 8 mit Hilfe des Ricardo-Modells des internationalen Handels diskutieren, eines Modells, das uns, weil es so einfach ist, erlaubt, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Es wird uns bei der Gewinnung zahlreicher qualitativer Einsichten helfen; warum wir Schuhe tragen, die in Bangladesch gefertigt wurden, wie es zum Rust Belt in den USA gekommen ist und auch warum es in Osteuropa zur Zeit viel zu wenige Ärzte gibt. In diesem Zusammenhang werden wir uns auch mit den vier Grundfreiheiten der EU, dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen beschäftigen müssen.
Über fünf Jahrzehnte war die Globalisierung, verstärkt durch den Eintritt Chinas in die Weltwirtschaft, der Treiber des Welthandels. „Billiglohnländer“ zogen Produktionsstätten an, und die Industrie verlagerte die Fertigung auf viele Standorte. Die arbeitsteilige Spezialisierung der Weltwirtschaft der vergangenen zwei Jahrzehnte basierte dabei wesentlich auf sogenannten komparativen Kostenvorteilen. Substanzielle Puffer waren in den Optimierungsmodellen nicht vorgesehen (wofür nicht die Mathematiker verantwortlich gemacht werden sollten). Tatsächlich haben wir nicht nur bezüglich der Arzneimittelherstellung – Ende Februar 2020 wurde z.B. bekannt, dass wesentliche Grundstoffe aus China und Indien nicht geliefert werden konnten – verstehen müssen, dass wir es mit der Just-in-Time-Methode und der Abschaffung kostenträchtiger Lager übertrieben haben. Das heißt ganz sicher nicht, dass wir zukünftig wieder Lager und Vorräte wie zu Großmutters Zeiten anlegen werden; ganz sicher aber werden die Produktionsmodelle in Zukunft mehr Wert auf Robustheit legen. Genau diese Schlussfolgerung – Stichwort Ausschaltung systemischer Risiken – wurde nach der vorherigen Krise auch auf das Weltfinanzsystem gezogen. Dass in der westlichen Welt einiges überreizt wurde und „dass es so nicht weiter gehen könne“, erkannte der Frontmann der US-amerikanischen Manager, J. P. Morgans CEO Jamie Dimon, übrigens bereits einige Jahre früher.15[1]
Den Blick nach vorn
Europas große Stärke und Schwäche zugleich im Vergleich zu den USA und China war und ist seine Heterogenität. Es wird vielerorts nicht nur eine unterschiedliche Rechtstradition gepflegt, in den großen europäischen Staaten Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien enstanden historisch sehr unterschiedliche Vorstellungen zur Rolle des Staates in der Gesellschaft. Dezentralität oder Diversität kann im europäischen Kontext aber nur dann einen Vorzug darstellen, wenn es ein einigendes Band gibt. In weniger turbulenten Zeiten waren dies die europäischen Werte (mehr dazu gleich in Kapitel 1), die auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität beruhten.
Auch wenn die öffentliche Debatte über die Zukunft der Europäischen Union und der Eurozone diese Konsequenz nur in wenigen Momenten anklingen lässt: Wir werden uns mittelfristig mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit entweder in einer (Teil-)Fiskalunion wiederfinden oder die Eurozone und mit ihr die Europäische Union wird an den existierenden und sich verstärkenden Fliehkräften zerbrechen. Spätestens diese Erkenntnis sollte uns dazu bewegen, ein deutlich verstärktes Interesse am Wohlergehen unserer Nachbarn im erweiterten Sinne zu entwickeln. Schadenfreude jeder Art (oft die süd- und südosteuropäischen Länder betreffend) ist hier nicht nur unangebracht, sondern frei nach Frankreichs legendärem Polizeiminister Joseph Fouché schlimmer als ein Verbrechen, sondern ein Fehler. Denken Sie an John Donnes Gedicht.
Tatsächlich lässt insbesondere der Mangel an Solidarität lange vor der Corona-Krise langfristig wenig Gutes für die EU ahnen. In den vergangenen Jahren haben hochrangige EU-Beamte China – mit triftigen Gründen – als systemischen Rivalen bezeichnet, der oft unfair konkurriere und der versuche, den europäischen Integrationsprozess durch den Einsatz von „Trojanischen Pferden“ zu untergraben. Tatsache ist, dass China über die Belt and Road Initiative (BRI) und das 17 + 1 Format in Brüssel (im Unterschied zu Russland) indirekt mit am Tisch sitzt, Tatsache ist aber auch, dass sowohl Italien als auch der EU-Aspirant Serbien ihre erste substanzielle Hilfe bei Seuchenausbruch aus China und danach aus Russland und nicht von einem ihrer europäischen Partner erhielten. Als die europäischen Partner begannen, Hilfe zu organisieren, war die Frage der Macht der Bilder bereits beantwortet. Dies ist gerade deshalb erwähnenswert, weil die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland bis zur Corona-Krise als langfristig positiv stabil galten.
In diesem Text werden Sie Verweise auf eine Vielzahl von Denkern finden, in zeitlicher Reihenfolge bei den Philosophen Lao-Tse, Konfuzius und Platon beginnend und über die Philosophen John Locke und Immanuel Kant hin zu Vertretern der Nationalökonomie (ein alter schöner Begriff für die Volkswirtschaftslehre) wie Karl Marx, John Maynard Keynes, Milton Friedman, Walter Eucken, Nicholas Georgescu-Roegen und weiter zu zeitgenössischen Denkern aus verschiedensten Wissensgebieten wie Robert Skidelsky und Daniel Kahneman (Ökonomie und Psychologie), Peter Watson (Wissenschaftsgeschichte), Christopher Clark, Ian Morris, David Landes und Noah Yuval Harari (Geschichte), Hans Christoph und Mathias Binswanger, Hans-Werner Sinn, Thomas Straubhaar und Peter Bofinger (Ökonomie und Politikberatung), Hal Varian (Ökonom und Google-Vorstand), Joseph Stiglitz (Ökonom und Regierungsberater), Boris Palmer (Politiker), Dirk Müller (Unternehmer und Publizist), John Hattie (Bildungsforscher) und Paul Collier (Migrationsforscher) kommend. Verbindend bei allen zitierten Denkern ist der Wille, eine Gesamtschau von Mensch und Gesellschaft zu entwickeln. Wenn Ihnen ein oder mehrere Autoren dieser unvollständigen Referenzliste unpassend bzw. „anstößig“ erscheinen, sollten Sie sich vor Augen halten, dass man nur seriös bewerten darf, was man selbst gelesen hat.
Wie wir sofort sehen, befinden wir uns hier in einem kaum auflösbaren Dilemma. Wissenschaftliche Sitte ist der Verweis auf Originalquellen: Tatsächlich habe ich nur sehr wenige ernstzunehmende Wissenschaftler in meinem Berufsleben kennengelernt, die mit Aussicht auf Glaubwürdigkeit behauptet haben, alle zitierten Referenzen auch nur eines einzigen Artikels, den sie geschrieben hatten, vollständig im Original gelesen zu haben. Kaum überraschend haben also nur sehr wenige „normale“ Menschen sowohl Zeit als auch Nerven, sich durch alle oder auch nur wenige zitierte Originaltexte „zu kämpfen“. Der Gebrauch von Sekundärquellen basiert also in mehrerlei Hinsicht auf Vertrauen: Hat der Autor überhaupt verstanden, was er gelesen hat (vorausgesetzt, er bezieht sich nicht auf noch jemand anderes, der das Originalwerk angeblich gelesen hat), zitiert er richtig und nicht aus dem Zusammenhang gerissen, usw.16
Fundamentale Ausführungen und Fragen, in welcher Art von Welt wir zukünftig leben wollen, sind sowohl technischer als auch ethischer Art (siehe Kapitel 10 zur Digitalisierung). Auf den ersten Blick jedenfalls scheinen autoritäre Staaten wie gerade China besser in der Lage zu sein, z.B. auf Seuchen zu reagieren. Wenn Freiheit im Sinne einer „goldenen Regel“ dadurch charakterisiert ist, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet, dann bedarf es bei uns im Westen