ist zu hoffen, dass wir in Zukunft mehr geistige Vielfalt und echte konstruktive Diskussion erleben werden. Aus den Universitäten, nicht nur in Deutschland, kam hier in den vergangenen Jahrzehnten viel zu wenig Nützliches oder gar Innovatives. Dies ist leicht erklärbar, da junge Nachwuchswissenschaftler für „Außenseitertheorien“ keine Fachzeitschriften zur Publikation finden, i.a. keine externen Finanzmittel (Drittmittel) erschließen und damit auch keine Karriere machen (mehr dazu in Kapitel 4).
Das für den Verfasser dieses Textes schlagendste Argument für die Behauptung, dass sich die Ökonomie, die bei aller Mathematisierung eine Sozialwissenschaft ist, aktuell in keinem guten Zustand befindet, ist empirisch begründet: Sowohl in Chicago als auch in Frankfurt, Riga, Ulaan Bator und Shanghai sind die verbindlichen Lehrwerke der Volkswirtschaftlehre zumeist die beiden (guten!) Bücher „Macroeconomics“ und „Economics“ von Gregory Mankiw. Mit anderen Worten: Von Chigaco über Frankfurt nach Shanghai werden die Studenten der Volkswirtschaftslehre auf eine fast identische – und damit notwendigerweise beschränkte – Art und Weise ausgebildet bzw. geprägt.
Tatsächlich traf der Ausbruch der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 und ihr anfänglicher Verlauf die weltweite Community der Volkswirte völlig unvorbereitet: Weder wurde die Finanzkrise von namhaften Experten vorhergesagt noch waren Notfallpläne verfügbar; die Politik – in Deutschland die Bundesregierung mit Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück – musste sich allein „durchkämpfen“. Nicht überraschend hat dies die Wertschätzung der Volkswirtschaftlehre nicht nur bei Kanzlerin Angela Merkel nachhaltig geprägt.
Einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung zur akademischen „Monokultur“ – zu Problemen mit Monokulturen informieren Sie sich dort, wo sie herkommen: aus der Landwirtschaft – haben die großen amerikanischen Lehrbuchverlage, die ihre Ableger in allen hinreichend großen Märkten von Deutschland bis China haben. Hochschullehrer erhalten Freiexemplare von Büchern (von denen natürlich erwartet wird, dass sie den Studenten empfohlen werden) und dazu werden – für den Hochschullehrer natürlich kostenfrei – zusätzliche Materialien wie Powerpointpräsentationen, Übungsaufgaben mit Lösungen und didaktische Hinweise gestellt. Dies ist übrigens keine Klage oder gar eine Anklage der Verlage. Deren Geschäftsmodell funktioniert nur, weil es an den Universitäten genug Leute gibt, die sich gern bei ihrer Arbeit „helfen“ lassen. Wie es zu dieser „Monokultur“ kommen konnte und warum u.a. die Encyclopaedia Britannica und der Brockhaus praktisch verschwunden sind, wird in den Kapiteln 4 und 11 mit Verweis auf die elementaren Prinzipien der Kostentheorie erörtert.
In den vergangenen Jahrzehnten ist auf fast allen Ebenen der westlichen Gesellschaften die Fähigkeit zum konstruktiven Streit weitgehend verloren gegangen. Zudem geriet die Methode der Dialektik (hier im Sinne des Lösens von Gegensätzen im Denken) fast völlig in Vergessenheit.
Wir müssen somit auch noch verstehen lernen, dass Wissen nicht nur geschaffen wird, sondern dass es auch verloren geht.12 Dass genau dies nicht flächendeckend geschieht, ist Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenwissenschaften, wollen sie eine Existenzberechtigung bewahren.
Eine echte Diskussion muss schlussendlich nicht mit einer „Einheitsmeinung“ enden: Zwei der ganz Großen der ökonomischen Zunft, John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek, vertraten zeitlebens unterschiedliche ökonomische Theorien und damit auch Gesellschaftskonzepte; beide wollten jedoch den Kapitalismus nach der schweren Depression ab 1929 „retten“ und beide begegneten sich zumeist mit Respekt. Sie unterschieden sich, wenn man dem britisch-amerikanischen Ökonomen Roger E. Farmer, folgt, weniger als gemeinhin behauptet: Farmers Antwort auf die Frage Keynes oder Hayek? lautet Keynes und Hayek!13
Zudem hat die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen im Westen in den vergangenen Jahrzehnten auf allen Ebenen rapide abgenommen. Niall Ferguson, einer der renommiertesten lebenden westlichen Historiker, sieht darin einen wesentlichen Grund für die im Titel seines im Jahr 2012 veröffentlichten Buches „Der Niedergang des Westens“ ausgedrückte These. Dies betrifft Eltern, die die Schulen als verantwortlich an allem ihren Nachwuchs betreffenden Übel sehen, Manager, die hohe Gehälter und Abfindungen kassieren, aber für Fehlentwicklungen in ihren Unternehmen nicht zuständig sind, u.v.m. Auf die deutsche Bundespolitik übertragen bedeutet das, dass „unangenehme“ Entscheidungen über Jahrzehnte an das Bundesverfassungsgericht und die Europäische Zentralbank „abgeschoben“ wurden.
Zentrale Thesen
John Maynard Keynes, dem wir in diesem Buch noch des Öfteren begegnen werden, wird das Bonmot „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und was machen Sie?“ zugeschrieben. In dem Ihnen vorliegenden Buch wird die zentrale These verfochten, dass notwendige Voraussetzungen für eine insgesamt hohe gesellschaftliche „Lebensqualität“ in einer komplexen Gesellschaft, die auf einem hohen Grad an Arbeitsteilung beruht, eine hohe allgemeine Bildung der Bevölkerung, nicht zu große Ungleichheit in Vermögen und Einkommen und die Fähigkeit, Fehler nicht nur zu erkennen, sondern zu korrigieren, sind. Hier können und müssen wir in Zukunft mehr von anderen Ländern lernen, und das betrifft nicht nur Dänemark oder die Schweiz, sondern ebenso China mit seinem konkurrierenden Gesellschaftsmodell. Verkomplizierend kommt heute hinzu, dass es auf Grund der fortgeschrittenen Spezialisierung in jedem Teilfachgebiet nur wenige echte Experten gibt, die dann auch noch zum Teil deutlich unterschiedliche Gedanken und Empfehlungen entwickeln. Denken Sie hier z.B. an die beiden Professoren der Virologie Christian Drosten und Alexander Kekulé, die ab Februar 2020 mehrere Monate lang quasi omnipräsent in deutschen Talkshows und Broadcasts waren und die zwar oft, aber nicht immer zu den gleichen Schlussfolgerungen bzw. Interpretationen kamen. Stellen Sie sich dann vor, in der Situation der Bundeskanzlerin oder des Gesundheitsministers zu sein, und rasch Entscheidungen treffen zu müssen. Folgen Sie Professor Kekulé oder Professor Drosten? Oder gar dem Chefepidemiologen der schwedischen Gesundheitsbehörde Anders Tegnell, der eine qualitativ andere, offenere Strategie zur Bewältigung der Corona-Krise empfahl? Ausführungen zu den beiden fundamentalen Fehlern, das Falsche zu tun oder das Richtige nicht zu tun, finden Sie im Exkurs zu Kapitel 2 und in Kapitel 8.
Stellen Sie sich nun unabhängig von der Corona-Krise vor, Sie wären Mitglied des Deutschen Bundestages und sollten sich (rasch!) eine Meinung zum Atomausstieg, zur Gentechnologie, zur NSA-Problematik, zum Grexit und/oder Brexit, zu den Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien oder den zukünftigen Beziehungen zu Russland bilden und danach mit Ja oder Nein über von der Regierung vorgeschlagene Entwürfe abstimmen. Ihre Meinung wird dann anschließend in ein Votum übersetzt, welches wiederum Auswirkungen auf die Geschicke Deutschlands, der EU und (vermutlich auch mindestens kurzfristig) auf Ihr eigenes berufliches Fortkommen nehmen kann.
Das Beste, was Ihnen (bzw. dem Staat) in dieser fiktiven Situation passieren kann, sind hoch qualifizierte loyale Berater oder Staatsangestellte (die natürlich auch Fehler machen können), auf die Sie sich verlassen können. Völlig unabhängige Berater gibt es natürlich nicht, aber das gut bezahlte und geachtete Berufsbeamtentum ist sicherlich eine „vernünftige“ Art und Weise, Berater und Administratoren, die „nicht zu abhängig sind“, an einen Staat und damit an ein Gemeinwesen zu binden. Diese Aussagen können Sie übrigens bereits aus der Gedankenwelt des zweifellos einflussreichsten Philosophen der Menschheitsgeschichte ableiten, dem vor ca. 2500 Jahren lebenden Konfuzius. Wir werden Konfuzius nicht nur in Kapitel 13, das China gewidmet ist, wiederbegegnen.
Ein Plädoyer für das Studium der Wirtschaftsgeschichte
Aus der Mikroperspektive stellt sich die Betrachtung von Wendepunkten in der (Wirtschafts-)Geschichte äußerst schwierig dar. Während die Just-in-Time Produktion bereits in den 1970er Jahren von Toyota (als Toyota nur in Japan produzierte) eingeführt wurde, scheint mit dem Auftauchen von Computern, die leistungsfähig genug waren, um größere praktische Probleme zu lösen, in den 1980er Jahren eine echte technologische Wende eingeleitet worden zu sein. Hier begann also, lange vor dem inflationären Gebrauch des Wortes disruptiv, Quantität in Qualität umzuschlagen.
Mathematische Laien können kaum eine Vorstellung von der „Mächtigkeit“ vieler realer Probleme haben, die erst durch leistungsstarke Computer (zumeist leicht und auch noch schnell) lösbar geworden sind. So wurde Harry Markowitz für seine Arbeiten