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Naturphilosophie


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wären. Diese Begriffe und Konstellationen sind nämlich zum großen Teil bis in die Gegenwart bedeutsam: und zwar von Weltbildern bis zu Naturrechtsdebatten, von Materiekonzepten bis zum physikalischen „Teilchenzoo“, von Körperpraktiken bis zu Ernährungsstilen, von ästhetischen Naturidealen bis hin zum Konzept eines regulierbaren Naturhaushalts. Sie werden auch gebraucht zur Erfassung der noch nicht historisch sedimentierten Mensch-Natur-Verhältnisse etwa bezüglich der Antarktis und der Tiefsee, die jüngeren Datums sind und eine hohe Dynamik aufweisen.

      Aber wenngleich das naturphilosophische Erbe an zahlreichen Hochschulen durchaus inhaltlich bearbeitet wird und teilweise nur unter anderem Namen figuriert, z.B. unter Philosophische Anthropologie, Ästhetik, Wissenschaftsphilosophie oder Tierethik, ist doch eine Vakanz historisch-systematischer Überblicksdarstellungen zur Naturphilosophie entstanden. Benötigt werden insb. Überblicksdarstellungen, welche die Historie mit einem aktuellen Frage- und Problemhorizont der Auseinandersetzungen um Natur und ‚Natur‘ verknüpfen. Vor allem in der schulischen und universitären Lehre macht sich diese Leerstelle seit längerem bemerkbar.

      Aufgrund dieser Desiderate in Lehre und Forschung haben sich die Herausgeberinnen und Herausgeber vor einigen Jahren versammelt, um in einer ständigen Arbeitsgruppe miteinander in Dialog zu treten und dieses Lehrbuch für den Unterricht, aber auch zum Selbststudium zu entwickeln. Als Autorinnen und Autoren wurden auch ausgewiesene Experten jenseits des Herausgeberkreises eingeladen. Für die beabsichtigte Vielstimmigkeit war und ist die Überzeugung leitend, dass die Naturphilosophie mit ihrer reichhaltigen Vergangenheit ihrerseits Zukunft hat. Sie kann ihr Potenzial auch für Fächer jenseits der Philosophie entfalten, z.B. für die Pädagogik, die Soziologie, die Psychologie, die Literaturwissenschaft, die Kunstgeschichte, die Theologie, die Mathematik und – nur scheinbar selbstverständlich – für die Naturwissenschaften. Umgekehrt tragen all jene und weitere Wissenschaften dazu bei, die Naturphilosophie immer wieder neu herauszufordern. Deshalb wurde dieses Lehr- und Studienbuch zwar vorwiegend, aber keineswegs ausschließlich von Philosophinnen und Philosophen geschrieben.

      |XVI|Das Buch ist in vier Sektionen gegliedert:

      1 Sektion I „Geschichte und Systematik“ bietet anhand repräsentativer Konstellationen und Personen Einblick in die reichhaltige Tradition der westlichen Naturphilosophie von der Antike bis in die Gegenwart. Dabei wird die Verschränkung von Geschichte und Systematik der Naturphilosophie deutlich.

      2 In Sektion II „Grundbegriffe der Naturphilosophie“ werden ausgewählte fundamentale Begriffe mit ihren Bedeutungstraditionen und gegenwärtigen Semantiken vorgestellt. Das Spektrum der Grundbegriffe reicht dabei von ‚Natur‘ bis ‚Mensch‘. Es bildet einen perspektivischen Horizont für die Frage, welche Begriffe zu welcher Zeit und aus welchen Gründen ihre Bedeutung eher in wissenschaftlichen oder eher in nichtwissenschaftlichen Kontexten erlangen. (Zu weiteren Begriffen s. www.naturphilosophie.org.)

      3 Sektion III rückt „Naturverhältnisse“ in den Mittelpunkt, d.h. den relationalen Charakter des Sprechens über, des Umgangs mit und des Verstehens von Natur sowie der damit verbundenen Beziehungs- und Deutungsmuster. Natur wird in Form von gesellschaftlichen Naturverhältnissen verhandelt, die von leiblichen und ästhetischen über u.a. experimentelle und erzählende bis hin zu geschlechtlichen und religiösen Naturverhältnissen reichen – und zuletzt das Mensch-Natur-Verhältnis als solches in Frage stellen.

      4 Sektion IV schließlich behandelt „Naturphilosophie in der Praxis“ und damit Naturbezüge, die v.a. jenseits des Labors greifen und für weitreichende Debatten sorgen, z.B. wenn in Film und Fernsehen, in Schule und Küche, im Naturschutzgebiet und Waldkindergarten, auf dem Acker und beim Spaziergang Natur sinnstiftend vermittelt, praktisch behandelt und auch immer wieder neu verhandelt wird. Im Lichte naturphilosophischer Reflexionen zeigen sich an diesen Naturbezügen konfliktträchtige, z.T. widersprüchliche und sogar paradoxe Umgangsweisen mit Natur: z.B. die Sehnsucht nach Wildnis und die Faszination für die „unendlichen Weiten“ des Weltalls bei oft gleichzeitiger Unterschätzung der alltäglichen Technisierungen von Natur in Folge von industrialisierter Landwirtschaft und Tierhaltung. Damit wird auch ein kritischer Blick auf aktuelle Ökonomien der Aufmerksamkeit für ‚die‘ Natur gelenkt. In guter philosophischer Tradition mögen die gegebenen Hinweise auf Paradoxien und Widersprüchlichkeiten Anlass zum Nachdenken und zur Selbstreflexion bieten.

      Mit diesem Aufbau werden vier unterschiedliche, jedoch miteinander verknüpfte Zugänge zur Naturphilosophie angeboten. Die Lektüre kann in jedem Kapitel des Lehr- und Studienbuches beginnen und von dort, unterstützt durch die Querverweise zwischen den Kapiteln, vertieft und erweitert werden. Weiterführende naturphilosophische Literatur ist, ohne Vollständigkeit anzustreben, jeweils am Ende der Kapitel genannt.

      Danken möchten wir den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und ferner dafür, dass sie sich im Rahmen des mehrstufigen Begutachtungsverfahrens auf den aufwändigen Abstimmungsprozess bei der Konzeptualisierung wie auch der |XVII|Finalisierung des Lehr- und Studienbuchs eingelassen haben. Den anonymen Gutachterinnen und Gutachtern danken wir für ihre wertvollen Kommentare und Hinweise.

      Wir danken dem Verlag Mohr Siebeck für die umsichtige Betreuung des Lehrbuchs. Für das sprachliche Lektorat danken wir Ariane Filius. Für umfangreiches Korrekturlesen und/oder Kommentieren sind wir darüber hinaus Alfred Dunshirn, Anna Katharina Göb, Claudia Güstrau, Sascha Kühlein, Uwe Lammers, Jochen Litterst, Sophie Nadolski, Fabian Ott und Steffen Stolzenberger zu Dank verpflichtet.

      Das Lehrbuch wurde durch die sechsjährige Arbeitsgruppe „Natur begreifen – Natur schützen“ an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V., Institut für interdisziplinäre Forschung (FEST), in Heidelberg konzipiert, die anfänglich von Gerald Hartung, dann von Thomas Kirchhoff geleitet wurde. Als Zwischenergebnis der Arbeitsgruppe und Vorarbeit zu diesem Lehr- und Studienbuch ist 2014 die Anthologie Welche Natur brauchen wir? Analyse einer anthropologischen Grundproblematik des 21. Jahrhunderts erschienen.

      Ohne die finanzielle Förderung der obigen Arbeitsgruppe durch die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V., Institut für interdisziplinäre Forschung (FEST), in Heidelberg im Rahmen ihrer Grundfinanzierung durch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) wäre es nicht möglich gewesen, dieses Lehr- und Studienbuch zu konzipieren und herauszugeben.

      Das Buch hat reges Interesse in Forschung, Lehre und Medien gefunden, so dass nach nur drei Jahren eine zweite Auflage erscheint. Sie wurde aktualisiert und auf Tippfehler durchgesehen. Unsere Einleitung und mit ihr das Buch sind durch die gesellschaftlichen Entwicklungen mehr denn je aktuell: Über Natur lässt sich nur in Mensch-Natur-Verhältnissen und in Kenntnis von Naturbegriffen sinnvoll nachdenken. Deshalb wurde im letzten Jahr, ergänzend zu diesem Buch, das Projekt „Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online Lexikon Naturphilosophie“ initiiert, an dem zahlreiche Autorinnen und Autoren dieses Buches beteiligt sind und in dem sukzessive frei zugängliche Artikel zu naturphilosophischen Begriffen versammelt werden sollen.

      Thomas Kirchhoff und Nicole C. Karafyllis für die Herausgeberinnen und Herausgeber

      Heidelberg und Braunschweig im Januar 2020

       [Zum Inhalt]

|1|Sektion I: Geschichte und Systematik

       [Zum Inhalt]

      |3|I.0 Einleitung

      Myriam Gerhard, Nicole C. Karafyllis, Gerald Hartung und Kristian Köchy

      Versteht man ‚Naturphilosophie‘ in weiter Bedeutung als den Versuch einer sinnstiftenden Betrachtung der Natur, dann gibt es keine Epoche der Philosophiegeschichte, in der die Naturphilosophie nicht präsent gewesen wäre. Über viele Jahrhunderte war sie sogar maßgeblich, z.B. mit der antiken Vorstellung vom Kosmos, die noch das Weltbild des Mittelalters prägte. Der Atomismus lässt sich nahezu durchgängig von den Vorsokratikern bis in die jüngste Gegenwart nachweisen, wenn