hin. Sie gerieten wahrscheinlich vor allem seit dem Makkabäeraufstand in einen tiefgreifenden Konflikt, denn die Einzigartigkeit und Reinheit des erwählten Gottesvolkes stand nun auf dem Spiel und musste geschützt werden. Immer mehr Schreiber/Schriftgelehrte lösten sich vom Tempel und leiteten so die Öffnung für Nichtpriester ein. Apokalypsen sind deshalb in vielen Fällen auch Ausdruck und Mittel politischer Agitation, zunächst vor allem gegen die Seleukiden, später gegen die Römer (vgl. z.B. PsSal 2; 17; AssMos 7; 10,7–10).
Die jüdische Apokalyptik ist ein bildungsmäßig anspruchsvolles Phänomen und wurzelt sowohl im prophetischen (Ansage und Enthüllung zukünftiger Geschehnisse) als auch im weisheitlichen (Pseudonymität, Naturbeobachtung, Auslegung von Traumgesichten, Berichte von Himmelsreisen, periodische Geschichtsschau) und priesterlichen Denken (Bewahrung des Erbes der Väter, Hochschätzung der Tora, idealer Tempel, kultische Reinheit, Kalenderfragen)184.
Weisheit als Lebensklugheit
Die jüdische Weisheitsliteratur185 gehört in den großen Bereich der altorientalischen Weisheitsliteratur, die vor allem in Ägypten und in Mesopotamien verbreitet war. Die Weisheit ist ein Bildungsphänomen, das Einsicht in alle wesentlichen Erfahrungszusammenhänge vermittelt und darauf zielt, sich positiv in die Gesetzmäßigkeiten des individuellen und sozialen Lebens einzuordnen. Die kluge Lebensführung ist eine Gabe Gottes (Sir 1,1–10) und zugleich eine menschliche Fähigkeit, die jedem offen steht (Sir 51,21–24). Grundthemen der Weisheit sind: Die Erkenntnis Gottes als Garant und Stifter der Weltordnung, das Verhältnis Weiser und Tor, Gerechter und Frevler in ihrem Tun und Ergehen; Armut und Reichtum; die rechte Zeit für ein glückliches Leben. Der Anfang der Weisheit ist nach Prov 9,10 „die Furcht des Herrn“, Quelle der Weisheit vor allem die Tora, die z.B. in Sir 24,23 und Bar 3,9–4,4 mit der Weisheit identifiziert wird (vgl. Ps 19,8; 119,98). Als literarische Gattung liegt die Weisheitsliteratur vorwiegend als Weisheitsspruch und den daraus entstandenen Spruchsammlungen vor. Diese wurden in Schreiberschulen gepflegt bzw. überliefert und richteten sich vor allem in den didaktischen Formen der Mahn- und Lehrworte auf den gesamten Bereich der Erkenntnis, Erziehung, Lebenseinstellung und Lebensführung. Wie die Apokalyptik ist auch die Weisheit nicht sauber von anderen Bereichen zu trennen, sondern weisheitliche Gedanken haben in fast alle Denk- und Überlieferungsformen jüdischen Denkens Einzug gehalten.
Krise der Weisheit
Eine Krise des weisheitlichen Denkens dokumentiert sich in der Rahmenerzählung (Hi 1–2; 42,7–14) des Hiobbuches (5./4. Jh. v.Chr.), wo sich der Fromme unvermutet, unverschuldet und unverstanden der Feindschaft Gottes ausgesetzt sieht und die Logik des Tun-Ergehen-Zusammenhanges nicht mehr greift186. Die Glaubwürdigkeit Gottes und der von ihm gesetzten Ordnung steht auf dem Spiel: Warum ist der Frevler glücklich und weshalb leidet der fromme Gerechte, obwohl er sich nicht verfehlt hat? Während bei Hiob das Vertrauen in Gottes Macht und Walten wiederhergestellt wird (vgl. Hi 38–42,6), findet sich im Predigerbuch (Kohelet) um 200 v.Chr. eine andere Position187. Auch hier wird der Zusammenbruch des Tun-Ergehen-Zusammenhanges konstatiert (vgl. Pred 7,15f; 8,12–14), aber die Schlussfolgerung ist eine andere als bei Hiob: Gott ist unberechenbar, seine gerechte Ordnung ist nicht erkennbar und deshalb gilt: ‚alles ist nichtig/absurd‘ (vgl. Pred 1,2; 8,14; 12,8 u.ö.). Es herrscht ein religiös-philosophischer Pessimismus vor, der eine deutliche Nähe zum griechischen Skeptizismus, aber auch zu Epikur zeigt. Es gilt, die wenigen Momente der Lebensfreude und des Glücks zu ergreifen (vgl. Pred 5,17– 19; 9,7–10; 11,9), die einem zufällig vergönnt sind. Dieses ‚carpe diem‘ vertraut nicht mehr der unerschütterlichen Ordnung Gottes, sondern weiß sich in einer von Nichtigkeit geprägten Welt auf sich selbst gestellt.
Das Judentum in den beiden Jahrhunderten um die Zeitenwende herum war durch eine innere Differenzierung und Pluralisierung gekennzeichnet, die sich vor allem in den Gruppenbildungen zeigte. Mit diesem Prozess verbanden sich massive innere und äußere Machtkonflikte: Einzelne Gruppen kämpften um die Deutungshoheit jüdischer Existenz, was vor allem durch die römische Präsenz in Palästina verstärkt wurde. Das Auftreten Johannes d. Täufers und Jesu von Nazareth müssen als ein Teil dieser Entwicklung verstanden werden.
Tafel 2: Chronologie der jüdischen Literatur
400–300 v.Chr. | Bildung des hebräischen Kanons in Hauptzügen abgeschlossen |
3. Jh. v.Chr. | äthHenoch 1–36 (1Hen: Wächterbuch) |
3. Jh. v.Chr. | äthHenoch 72–82 (1Hen: astronomisches Buch) |
3. Jh. v.Chr. | Tempelrolle (11QT) |
~ 250 v.Chr. | Beginn der Septuaginta-Übersetzung |
~ 200 v.Chr. | Prediger Salomo |
200–150 v.Chr. | Jubiläenbuch |
~ 190 v.Chr. | Testament der zwölf Patriarchen |
~ 180 v.Chr. | Jesus Sirach |
~ 170 v.Chr. | Kriegsrolle (1QM)/Sprüche Salomos |
165/164 v.Chr. | Endredaktion des Daniel-Buches |
~ 100 v.Chr. | Gemeinschaftsregel (1QS)/Damaskusschrift (CD)/1Makkabäerbuch |
~ 50 v.Chr. | Psalmen Salomos |
~ 0–30 n.Chr. | Himmelfahrt Mosis |
~ 15–45 n.Chr. | Schriften Philos |
~ 50–70 n.Chr. | slawisches Henochbuch (2Hen) |
~ 100 n.Chr. | 4Esra |
~ 120 n.Chr. | syrBaruch |
3.4 Die politische und wirtschaftliche Situation im Imperium Romanum des 1./2. Jh. n.Chr.
Das römische Kaiserreich als globaler Politik-, Wirtschafts- und Kulturraum ist eine entscheidende geschichtliche Voraussetzung für die Entstehung des frühen Christentums. In diesem relativ einheitlichen Bereich fand das frühe Christentum innerhalb des politisch und wirtschaftlich stabilen 1./2. Jh. n.Chr. beste Voraussetzungen für seine Verbreitung.
THEODOR MOMMSEN, Römische Kaisergeschichte, hg. v. Barbara u. Alexander Demandt, München 2005 (= 1882/86). – JOCHEN BLEICKEN, Verfassungs- und Sozialgeschichte des römischen Kaiserreiches I–II, Paderborn 31989–1994. – KARL CHRIST, Geschichte der römischen Kaiserzeit, München 42002. – HEINZ BELLEN, Grundzüge der römischen Geschichte II: Die Kaiserzeit von Augustus bis Diocletian, Darmstadt 1998. − HEINRICH SCHLANGE-SCHÖNINGEN, Augustus, Darmstadt 2005. − RALF VON DEN HOFF/WILFRIED STROH/MARTIN ZIMMERMANN, Divus Augustus, München 2014. − GREG WOOLF, Rom. Die Biographie eines Weltreichs, Stuttgart 22015.
Die römische Republik188 befand sich seit dem ausgehenden 2. Jh. v.Chr. in einer schweren Dauerkrise, die ab 52 v.Chr. eskalierte. Aus dem Bürgerkrieg 49 v.Chr. ging Julius Gaius Caesar als Sieger hervor, 48 v.Chr. starb sein hartnäckiger Rivale Pompeius. In dem Augenblick, als Caesar die Hand nach der Alleinherrschaft ausstreckte, wurde er ermordet (15.3.44 v.Chr.)189. Die Mörder Caesars konnten sich jedoch nur für kurze Zeit behaupten. Dann machten Octavian und Antonius, die sich zum Kampf gegen die Caesarenmörder verbündet hatten, ihrem Regiment ein Ende (42 v.Chr.). Die Sieger teilten sich das Reich: Antonius übernahm die Herrschaft im Osten, lebte in Alexandria und bestimmte von dort auch die Geschicke Syriens und Palästinas; Octavian regierte in Rom über Italien und den Westen des Reiches. Doch diese Regelung sollte nicht von Dauer sein, da es bald zum Zerwürfnis zwischen den beiden Herrschern kam. Nach dem Sieg in der Seeschlacht bei Actium (31 v.Chr.) war Octavian alleiniger Herrscher über das Römische Reich.
Augustus
Die Stellung des Octavian wurde gefestigt190, indem sein Adoptivvater Caesar auf Beschluss des Senats unter die Götter erhoben wurde; Octavian nannte sich fortan Sohn des göttlichen Caesar. Obwohl die alte römische Verfassung wieder in Kraft gesetzt worden war, lag die tatsächliche Regierungsgewalt allein bei Octavian. Als er im Jahr 27 v.Chr. in einem öffentlichen Staatsakt alle ihm übertragenen Sondervollmachten niederlegte und sie dem Senat zurückgab, damit die alte Ordnung wiederhergestellt werde, ersuchte ihn der Senat, seine Stellung zu behalten, damit er den Frieden schütze und weiterhin für die Wohlfahrt des Staates sorge. Daraufhin nahm Octavian die Vollmachten, die er soeben abgelegt