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Wörterbuch der Soziologie


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soziale

      Unter einer sozialen Bewegung (engl. social movement) versteht man ein soziales Subjekt, das aus einer relativ großen Anzahl von Menschen besteht, die unter einer zentralen, manchmal charismatischen, Führung, aber ohne sehr feste Organisation ein gemeinsames Anliegen gegenüber der Gesamtgesellschaft oder deren politischen Einrichtungen verfolgen. Meist will sie sozialen oder technischen Wandel herbeiführen, beschleunigen, umkehren oder verhindern und wirkt dann teilweise wie ein sozialer Katalysator.

      Dieses Anliegen kann sein: wirtschaftliche Besserstellung und Schutz vor Willkür (z. B. Arbeiterbewegung), Gleichberechtigung (Frauenbewegung, US-Bürgerrechtsbewegung), Gewährung von Freiraum für selbstbestimmte Lebensführung (Jugendbewegung), Selbstbefreiung von fremder Unterdrückung (nationale Bewegungen), Schutz der Natur vor dem Menschen (Umweltbewegung), Protest gegen die Nichtbeachtung von Minderheiteninteressen in der offiziellen Politik (außerparlamentarische Opposition), Kampf gegen die Unterdrückung von Menschen durch den Staat (Menschenrechtsbewegung), Abwehr von befürchteten Nachteilen durch weltweite Entwicklungen (Antiglobalisierungsbewegungen) usw. Regelmäßig geht es um einen Missstand, der nach Ansicht der Bewegung von den vorhandenen und zuständigen gesellschaftlichen und politischen Organen gar nicht oder nicht angemessen beachtet wird. Insofern sind soziale Bewegungen i. d. R. ein Anzeichen für fehlenden sozialen oder politischen Wandel und damit ein sozialer Indikator für potenziellen Konflikt, mindestens aber für Mangel an Legitimität der zurzeit zuständigen Instanzen.

      Wird dem Anliegen einer sozialen Bewegung nicht durch Anpassung der vorhandenen Institutionen Rechnung getragen, sind bei hinreichender Macht der sozialen Bewegung Unruhen, Bürgerkriege und gar Revolutionen nicht ausgeschlossen. Setzt sich die soziale Bewegung aber durch, wird sie zumeist in die bestehenden Strukturen eingebaut (z. B. Unterorganisation für Frauen oder Frauenquote in einer Partei), zur eigenständigen, formalen Organisation (Arbeiterbewegung als Gewerkschaft) oder von den bestehenden Einrichtungen aufgesogen (Umweltziele in die Programme aller Parteien integriert).

      Wegen ihres im Vergleich zu formellen Organisationen recht konturlosen, aber facettenreichen Erscheinungsbildes, nur wenig deutlicher als Massen oder Mengen, haben die sozialen Bewegungen bisher noch nicht sehr viel allgemeintheoretische Aufmerksamkeit erhalten. Bisher wurden daher eher einige Einzelfragen eingehender behandelt, Führer-Gefolgschafts-Beziehungen, Rekrutierungswesen, Umschlag von Unterdrückung in Aufstand, Zustandekommen von Kollektivhandeln, Mobilisierungsstrategien der Führung usw.

      Bürgerinitiativen unterscheiden sich von sozialen Bewegungen durch ihre lokale Begrenzung, geringe Mitgliederzahl, relativ enge Anliegen (Verlangen einer Umgehungsstraße, Verhinderung eines Gefängnisbaus) und relativ kurze Lebensdauer, so dass ihre Anliegen nicht auf sozialen Wandel deuten. Soziale Bewegungen werden wegen ihres Verlangens nach zumeist gesamtgesellschaftlichem Wandel an ihrem Anfang oft als illegitim angesehen, kriminalisiert und verfolgt, während Bürgerinitiativen fast regelmäßig erwartete und geduldete bis anerkannte Begleiterscheinungen z. B. eines jeden Bebauungsplans sind.

      [61]Literatur

      Eder, Klaus, 2000: Kulturelle Identität zwischen Tradition und Utopie. Soziale Bewegungen als Ort gesellschaftlicher Lernprozesse, Frankfurt a. M./New York. – Kern, Thomas, 2008: Soziale Bewegungen, Wiesbaden. – Roth, Roland; Rucht, Dieter (Hg.), 2008: Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt a. M./New York.

       Günter Endruweit

      Soziale Beziehungen (engl. social relationships) bestehen zwischen Personen, die voneinander abhängig sind und die ihre Interaktion koordinieren. Soziale Beziehungen werden durch Regeln organisiert, die der Koordination der beteiligten Personen dienen; sie setzen soziale Fertigkeiten voraus, sie verbinden Individuen, die ihre Ziele verfolgen, und sie werden durch die gegebenen Umweltfaktoren gefördert oder eingeschränkt (Argyle/Henderson 1990). Beispiele, die die Spannweite von sozialen Beziehungen veranschaulichen, sind Geschäftsbeziehungen, Freundschaften und Paarbeziehungen, die im zweiten Teil auch ausführlicher behandelt werden. Im ersten Teil wird mit dem Begriff der Figuration ein sozialwissenschaftliches Rahmenkonzept für soziale Beziehungen dargestellt, und im Anschluss daran wird die Norm der Reziprozität beschrieben, die eine der zentralen Regeln darstellt, durch die soziale Beziehungen koordiniert werden.

      Figuration: Die Verbindung zwischen Individuum und Gruppe

      Elias (1997, urspr. 1939) schreibt in der Einleitung seines berühmten Werkes »Über den Prozess der Zivilisation«: »Das Geflecht der Angewiesenheit von Menschen aufeinander, ihre Interdependenzen, sind das, was sie aneinander bindet.« Sie sind das Kernstück dessen, was hier als Figuration bezeichnet wird, als »Figuration aufeinander ausgerichteter, voneinander abhängiger Menschen« (S. 70). Er benennt diese Konfigurationen im Weiteren als Gruppen oder – auf einer höheren Ebene – als Gesellschaften. Mit dieser Begriffsbildung soll die Dichotomie zwischen Individuum und Gesellschaft überwunden werden. Die Gesellschaft wird entsprechend als »das von Individuen gebildete Interdependenzgeflecht« bezeichnet (S. 71).

      Eine Analogie kann das Verständnis dessen, was eine Konfiguration ausmacht, erleichtern: Figurationen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Gesellschaftstänzen wie Tango oder Rock’n Roll (Elias 1997, 71). Zwar können unterschiedliche Individuen miteinander tanzen, aber die Abhängigkeit unter den Tänzern, die ihre Tanzschritte koordinieren, ist ein konstituierendes Merkmal des Tanzes. Figuration umfasst also interpersonelle Abhängigkeit und Koordination unter den Handlungen der beteiligten Personen. Während der Tanz eine überschaubare Anzahl von Menschen umfasst und meist auf einer dyadischen Beziehung beruht, kann die Figuration ganze Gesellschaften beschreiben, indem sie die Beziehung der kleineren Gesellschaftseinheiten untereinander darstellt.

      An anderer Stelle verwendet Elias (2009, urspr. 1970) das Bild eines Gesellschaftsspiels, bei dem vier Personen zusammen Karten spielen. Die Spieler interagieren miteinander und bilden eine Figuration. Eine größere Figuration ergibt sich, wenn zwei Fußballmannschaften aufeinander treffen. An diesen Beispielen wird deutlich, dass Personen in Konfigurationen sowohl Verbündete als auch Gegner sein können (S. 142). Verbündete sind z. B. Lehrer und Schüler oder Arzt und Patient oder Mitglieder eines Stammtischs (zumindest wenn es gut läuft). Hingegen gilt es auch, Interessengegensätze zu berücksichtigen, wenn etwa die Bewohner einer Stadt in ihren Interdependenzen betrachtet werden. Die einen streben z. B. eine Reduzierung der Lärmbelästigung an, während andere den Ausbau des Regionalflughafens forcieren.

      Der Begriff der Figuration thematisiert die Interdependenz der Individuen und die Koordination ihrer Handlungen auf unterschiedlichen Ebenen. Dem liegt die Idee zugrunde, dass es ein Grundbedürfnis nach Gesellung gibt (Bierhoff 2006). Menschen leiden unter Einsamkeit und streben danach, ihre Bedürfnisse in sozialen Beziehungen zu befriedigen. Elias spricht von Gefühlsbefriedigungen, die durch die Verbundenheit mit anderen Personen möglich werden. Die Nähe anderer, mit denen eine Beziehung aufgebaut wird, ermöglicht soziale Vergleiche und das Lernen von angemessenen Strategien. Dadurch wird die Unsicherheit reduziert und die Selbstsicherheit gesteigert.

      Die Bedeutung der Interdependenz der Individuen, die Elias in den Mittelpunkt des Begriffs der Konfiguration rückt, wird in der sozialpsychologischen [62]Interdependenztheorie genauer betrachtet (Bierhoff/Jonas 2011). Dabei geht es um die Frage, wie individuelle Bedürfnisse und gemeinsame Interessen ein Muster der Interdependenz erzeugen, in dem die beteiligten Personen mehr oder weniger gut ihre Ziele erreichen können bzw. sich koordinieren müssen, um die Zielerreichung zu optimieren.

      Reziprozität als Basis der Kooperation

      Die Bedeutung der Reziprozität nimmt in der Moderne zu (Elias 2009, 159). In modernen, durch IT bestimmten Gesellschaften reduziert sich tendenziell die Bedeutung von Machtunterschieden, während ein System, das auf Gegenseitigkeit aufgebaut ist, an Bedeutung gewinnt. Reziprozität setzt eine gewisse Verlässlichkeit der Partner in sozialen Beziehungen voraus. Wenn das Vertrauen einer Person durch reziproke Verlässlichkeit der anderen Person bestätigt wird, nimmt das Vertrauen in der Folge zu. Wenn andererseits auf Vertrauen mit Misstrauen geantwortet wird, sinkt das Vertrauen dramatisch.