Stefan Stürmer

Sozialpsychologie der Gruppe


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lässt sich sowohl auf Kleingruppen anwenden, in denen die Möglichkeit direkter („Face-to-Face-“)Interaktionen zwischen allen Gruppenmitgliedern besteht (Arbeitsgruppen, Teams etc.), als auch auf soziale Kategorien, bei denen diese Möglichkeit nicht besteht (Männer, Psychologen, Deutsche etc.). In der Sozialpsychologie werden die Begriffe „soziale Kategorie“ und „Gruppe“ daher typischerweise synonym verwendet.

      Der Begriff „Entitativität“ bezieht sich darauf, inwieweit eine Ansammlung von Personen vom sozialen Beobachter als kohärente soziale Einheit wahrgenommen wird (bzw. seinem „prototypischen“ Bild einer Gruppe entspricht). Im Allgemeinen werden Gruppen, bei denen ein hohes Maß an Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern besteht, als besonders entitativ angesehen – z. B. Familien oder Teams (Lickel et al. 2000).

      Der Begriff „Gruppenkohäsion“ bezieht sich auf den inneren Zusammenhalt einer Gruppe (das „Wir-Gefühl“), der u. a. durch die Intensität und emotionale Qualität der Beziehungen der Gruppenmitglieder zueinander zum Ausdruck kommt. Gruppenkohäsion ist eine variable Eigenschaft einer Gruppe: Sie kann zwischen Gruppen, zwischen unterschiedlichen sozialen Kontexten und über die Zeit hinweg variieren.

      Der Begriff der „sozialen (oder auch kollektiven) Identifikation“ bezieht sich wiederum auf die psychologische Beziehung zwischen einem einzelnen Gruppenmitglied und der Gruppe. Soziale Identifikation wird als ein Konstrukt aufgefasst, das aus mehreren Komponenten besteht (Leach et al. 2008). Auf abstraktem Niveau reflektieren diese Komponenten:

      imageswelchen Stellenwert die Gruppenmitgliedschaft für die Selbstdefinition einer Person hat und

      imageswie viel eine Person emotional in ihre Gruppenmitgliedschaft investiert.

      Aufgrund unterschiedlicher individueller Erfahrungen können sich einzelne Gruppenmitglieder unterschiedlich stark mit ihrer Gruppe identifizieren; die Stärke dieser Identifikation kann außerdem mit dem sozialen Kontext variieren. Ein wichtiger Einflussfaktor auf die psychologische Beziehung zwischen Individuum und Gruppe ist, ob die Gruppenzugehörigkeit selbst gewählt worden ist (z. B. die Mitgliedschaft in einer Freizeitsportgruppe oder einer politischen Partei) oder ob sie durch soziale Strukturen oder die Behandlungen anderer Personen vorgegeben ist (z. B. die Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie basierend auf dem Geschlecht, der Ethnie oder der sexuellen Orientierung).

      Für das Erleben der Gruppenzugehörigkeit ist ferner relevant, ob es sich bei der Gruppe um eine soziale „Minoritätsgruppe“ oder um eine „Majoritätsgruppe“ handelt. Minoritäten haben (mit Ausnahmen von Eliten) typischerweise einen niedrigeren sozialen Status innerhalb der Gesellschaft als Majoritäten und verfügen nicht selten über eingeschränkte gesellschaftliche Rechte oder Ressourcen. Forschungsergebnisse zeigen, dass Minoritätsangehörigen im Vergleich zu Majoritätsangehörigen ihre Gruppenzugehörigkeit in sozialen Situationen häufiger präsent ist, wobei sie gleichzeitig in geringerem Maße positive Gefühlszustände aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit erleben (Lücken/Simon 2005).

      Der folgende Abschnitt gibt einen kurzen – und angesichts des Zweckes des vorliegenden Buches notwendigerweise selektiven – Überblick über einflussreiche theoretische Perspektiven der sozialpsychologischen Gruppenforschung.

      Die historische Entwicklung der sozialpsychologischen (Inter-)Gruppenforschung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde von zwei unterschiedlichen Perspektiven dieser Zeit geprägt: einerseits von Forschungsarbeiten, die kollektive Phänomene wie Kultur, Massen, Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Gruppen in den Mittelpunkt stellten; andererseits von Forschungsarbeiten der experimentellen Psychologie, die sich auf die Erforschung individueller Phänomene beschränkte.

      Letzter Ansatz geht davon aus, dass sich das Verhalten von Menschen in Gruppen (wie das Verhalten von Menschen allgemein) unmittelbar aus ihren individuellen Eigenschaften, Präferenzen und Interessen ableiten lässt. Um es mit Floyd Allport, dem Verfasser eines der ersten Lehrbücher für Sozialpsychologie auszudrücken: „There is no psychology of groups which is not essentially and entirely a psychology of individuals“ (Allport 1924, 4).

      Die sozialpsychologische Forschung hat eine Vielzahl von Persönlichkeitseigenschaften und individuellen Differenzen identifiziert, die einen Beitrag zur Erklärung von Gruppenverhalten leisten (➔ z. B. in Kapitel 3: individuelles Selbstwertgefühl als Moderator der Effekte der Anwesenheit anderer Personen auf die eigene Leistung; in Kapitel 5: soziale Dominanzorientierung als Determinante von Vorurteilen; in Kapitel 7: politische Selbstwirksamkeitserwartung als Erklärung interindividueller Differenzen politischer Partizipation). Persönlichkeits- oder eigenschaftsbasierte Ansätze erklären allerdings nur unzureichend, warum sich Menschen als Mitglieder von Gruppen häufig anders verhalten als es ihre persönlichen Eigenschaften erwarten lassen (z. B. kooperativer und freundlicher gegenüber Mitgliedern ihrer Eigengruppe und wettbewerbsorientierter und feindseliger gegenüber Mitgliedern einer Fremdgruppe). Tatsächlich legt die empirische Forschung, entgegen dem Allport’schen Postulat, eine Diskontinuität zwischen individuellem Verhalten und Gruppenverhalten nahe, sodass man nicht einfach von den Eigenschaften von Individuen auf ihr Verhalten in Gruppensituationen extrapolieren kann (Sherif 1962, 5).

      „Austausch- oder Interdependenztheorien“ sehen in der wechselseitigen Abhängigkeit von Menschen in sozialen Interaktionen und Beziehungen den Schlüssel zum Verständnis von Interaktionen in Gruppen (z. B. Blau 1964; Thibaut/Kelley 1959). Die Kernannahmen dieser Perspektive sind wie folgt: Menschen sind im Hinblick auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse voneinander abhängig (interdependent). Die Bildung von relativ zeitstabilen Gruppen ermöglicht einen sicheren und vorhersehbaren wechselseitigen Austausch von materiellen und immateriellen Ressourcen. Durch Kooperationen mit anderen Gruppenmitgliedern können zudem Ziele erreicht werden, die individuell nicht erreicht werden könnten. Da Menschen in Gruppen ihre Beziehungen, Regeln und Ziele aufeinander abstimmen und gemeinsam definieren müssen, lassen sich ihre Verhaltensweisen nicht einfach aus ihren individuellen Eigenschaften ableiten; eine Gruppe selbst verhält sich dementsprechend typischerweise auch anders als die Summe ihrer Mitglieder.

      Im Einklang mit „Theorien der rationalen Entscheidung“ („Rational-Choice Theories“) gehen Vertreter von Austausch- oder Interdependenzansätzen zudem davon aus, dass Menschen Interaktionen, die instrumentell für die individuelle Zielerreichung sind, als positiv empfinden und sie dementsprechend wiederholen. Sie schließen sich daher Gruppen an und verbleiben in ihnen, wenn sie erwarten, dass die Interaktionen innerhalb von Gruppen zu positiven Ergebnissen für sie führen; sie verlassen die Gruppe, wenn die Bedürfnisbefriedigung unter den Erwartungen bleibt und sich positivere Alternativen für die Realisierung individueller Ziele bieten. Die Annahme der wechselseitigen Abhängigkeit als einer zentralen psychologischen Grundlage für Gruppenprozesse findet sich in zahlreichen Ansätzen der Forschung zu zwischenmenschlichen Interaktionen innerhalb von Gruppen. So basieren Erklärungsansätze zum sozialen Einfluss (➔ Kapitel 2) beispielsweise auf der Prämisse, dass sich Menschen von anderen Menschen beeinflussen lassen, da sie im Hinblick auf die Validierung ihres Bildes von der Realität (informationaler Einfluss) oder auf ihr Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit (normativer Einfluss) auf andere Gruppenmitglieder angewiesen sind.

      Die Interdependenzannahme spielt auch eine zentrale Rolle bei der Erforschung von Kooperationsverhalten in Gruppen (➔ Kapitel 3). Darüber hinaus liefert sie auch einen Ausgangspunkt für die Erklärung intergruppalen Verhaltens. So postuliert die in Kapitel