dass Vorurteile und Konflikte zwischen Gruppen dann entstehen, wenn innerhalb der Gruppen die Wahrnehmung vorherrscht, sie seien im Hinblick auf ein Ziel negativ interdependent (d. h., wenn eine Gruppe eine Ressource nur zulasten der anderen Gruppe nutzen kann).
1.2.3Soziale Kategorisierung und soziale Identität
Der „soziale Identitätsansatz“, der die „Theorie der sozialen Identität“ (Tajfel/Turner 1986) und ihre Weiterentwicklung in Form der „Selbstkategorisierungstheorie“ (Turner et al. 1987) umfasst, betont die kognitiven Grundlagen der Gruppenbildung. Diesem Ansatz zufolge ist Interdependenz zwar eine hinreichende, nicht aber eine notwendige Bedingung dafür, dass Menschen Gruppen bilden und sich entsprechend ihrer Gruppenzugehörigkeit verhalten. Notwendig ist vielmehr, dass Personen sich selbst und andere Personen als gleiche (austauschbare) Elemente einer sozialen Kategorie wahrnehmen. Ausgangspunkt der Entwicklung des sozialen Identitätsansatzes waren Ergebnisse der Experimente mit minimalen Gruppen von Tajfel und Mitarbeitern (z. B. Tajfel et al. 1971).
In einem paradigmatischen Experiment von Tajfel et al. (1971, Exp. 2) wurden die Untersuchungspersonen (14- bis 15-jährige Schüler) auf der Basis ihrer angeblichen Präferenzen für einen von zwei abstrakten Malern (Klee oder Kandinsky) in zwei Gruppen eingeteilt – tatsächlich erfolgte die Einteilung nach dem Zufallsprinzip. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wurden sie gebeten, kleinere Geldbeträge zwei anderen Personen zuzuteilen, von denen jeweils eine Person zur Eigen- und die andere zur Fremdgruppe gehörte. Sich selbst konnten die Untersuchungspersonen kein Geld zuteilen. Die Gruppen werden als „minimal“ bezeichnet, da zentrale Bedingungen, die üblicherweise in Gruppensituationen vorherrschen, durch das experimentelle Paradigma gezielt ausgeschlossen wurden. So bestand weder innerhalb noch zwischen den Gruppen Face-to-Face-Interaktion, die Untersuchungspersonen wussten nicht, wer in der Eigen- und wer in der Fremdgruppe war, es bestand keine rationale oder instrumentelle Verbindung zwischen der Gruppeneinteilung und der Art der Aufgabe und die Zuteilung brachte keinen persönlichen Vorteil (d. h., die Gruppenmitglieder waren nicht interdependent). Gruppenstiftend war allein die Kategorisierungsinformation.
Überraschenderweise war schon unter diesen minimalen Bedingungen und in Abwesenheit von Interdependenz eine systematische Tendenz zur Bevorzugung der Mitglieder der Eigengruppe gegenüber Mitgliedern der Fremdgruppe zu beobachten.
Das Herzstück der Erklärung für die in den Minimalgruppenexperimenten beobachteten Effekte aus der Perspektive des sozialen Identitätsansatzes ist das Konzept der sozialen Identität. Der „Theorie der sozialen Identität“ zufolge stellt die Kategorisierung in Eigen- und Fremdgruppen die psychologische Basis dafür dar, dass sich Personen nicht länger im Sinne ihrer individuellen Identität, sondern auf der Basis ihrer Gruppenzugehörigkeit hinsichtlich ihrer sozialen Identität definieren. Formen der sozialen Diskriminierung, wie sie in basaler Form in minimalen Gruppenexperimenten zu beobachten sind, lassen sich dieser Perspektive zufolge als eine Strategie verstehen, eine positive soziale Identität herzustellen.
Die „Selbstkategorisierungstheorie“ hat die Bedeutung des Konzeptes der sozialen Identität zur Erklärung von Verhalten innerhalb und zwischen Gruppen weiter ausgearbeitet. Der Begriff „personale Identität“ bezieht sich in diesem Forschungszusammenhang auf eine Definition einer Person als einzigartiges und unverwechselbares Individuum, die auf einer interpersonalen Differenzierung auf der Basis individueller Merkmale beruht („ich“ vs. „du“ oder „ihr“). Der Begriff der „sozialen Identität“ bezieht sich demgegenüber auf eine Selbstdefinition als austauschbares Gruppenmitglied, die aus einer intergruppalen Differenzierung zwischen Eigen- und Fremdgruppe auf der Basis gruppentypischer Merkmale resultiert („wir“ vs. „die“). Relativ zur personalen Identität basiert die soziale Identität auf einer inklusiveren Selbstdefinition, da die Mitglieder einer Gruppe oder sozialen Kategorie, zu der die Person gehört (der Eigengruppe), in die Selbstdefinition eingeschlossen werden („wir Psychologen“, „wir Deutschen“ etc.).
Vertreter des sozialen Identitätsansatzes nehmen an, dass in dem Maße, in dem sich Menschen im Sinne ihrer sozialen Identität definieren, das Erleben und Verhalten dieser Person durch die in der entsprechenden Gruppe vorherrschenden Werte, Normen, Einstellungen etc. beeinflusst wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass personale und soziale Identität nicht als statische Konzepte zu verstehen sind, sondern als dynamisch und kontextabhängig. Eine Person kann sich also, je nach Kontextbedingungen in einer Interaktionssituation in erster Linie als Mann sehen (im Unterschied zu den anwesenden Frauen), in der nächsten als Psychologe (im Unterschied zu den anwesenden Biologen) und in der darauffolgenden als einzigartiges Individuum, wobei jeweils die entsprechenden identitätsspezifischen Werte, Normen und Einstellungen das Erleben und Verhalten bestimmen. Der soziale Identitätsansatz hat zu einer Vielzahl von Erklärungen für intragruppale Prozesse (➔ z. B. in Kapitel 2: sozialer Einfluss; in Kapitel 3: Führungsverhalten) oder intergruppale Prozesse beigetragen (➔ z. B. in Kapitel 4: Stereotype und Vorurteile; in Kapitel 5: Konflikte zwischen Gruppen).
1.2.4Soziale Kognitionen
Eine weitere einflussreiche Perspektive im Kontext der Gruppenforschung, insbesondere der Erforschung von Intergruppenprozessen, ist die soziale Kognitionsforschung. Generalthema der sozialen Kognitionsforschung ist die Frage, wie Menschen Informationen über andere Menschen und Gruppen verarbeiten, wie diese Informationen mental organisiert, gespeichert und abgerufen werden und wie sich diese Verarbeitungsprozesse auf die subjektive Wahrnehmung und Interpretation der sozialen Realität auswirken (Bless et al. 2004; Fiske/Taylor 1991).
Die soziale Kognitionsforschung stellt kein einheitliches theoretisches Rahmenwerk für die Analyse von Gruppenprozessen dar; vielmehr basieren die unter dieser Forschungsperspektive entwickelten Erklärungsansätze und Modelle auf einer Reihe von gemeinsamen Prämissen. Eine dieser Prämissen ist, dass sich Informationsverarbeitungsprozesse dahingehend unterscheiden lassen, inwieweit sie automatisch oder kontrolliert verlaufen. Automatische Prozesse sind u. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie wenig kognitive Ressourcen verbrauchen, nicht kontrolliert werden müssen (oder kontrolliert werden können) und unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen (z. B. Bargh 1999). Kontrollierte Prozesse benötigen demgegenüber erhebliche kognitive Ressourcen, sie erfordern aktive Regulation, die von einer Person (zumindest teilweise) bewusst gesteuert werden kann. Das Kontinuum-Modell von Susan Fiske und Steven Neuberg (z. B. Fiske/Neuberg 1990) – eines der einflussreichsten Modelle zur Frage, wie sich Menschen Eindrücke von anderen Menschen bilden – geht beispielsweise davon aus, dass die Eindrucksbildung stets mit einer automatischen Kategorisierung der fremden Person beginnt, die auf der Grundlage leicht beobachtbarer Merkmale erfolgt (z. B. der Hautfarbe, dem Geschlecht oder dem Alter). Die Zielperson wird also zunächst – ohne dass der Wahrnehmende dies beabsichtigt – im Sinne ihrer Kategorienzugehörigkeit und der damit assoziierten stereotypischen Eigenschaften wahrgenommen (z. B. als Schwarzer). Nur wenn die Motivation zu einer kontrollierten Form der Informationsverarbeitung vorhanden ist, wird die kategorien- oder stereotypenbasierte Informationsverarbeitung zugunsten einer eigenschaftsbasierten Informationsverarbeitung aufgegeben, bei der die wahrnehmende Person Schritt für Schritt die individuellen Eigenschaften und Merkmale der Zielperson bei der Eindrucksbildung berücksichtigt (z. B. Colin, ein 25-jähriger dunkelhäutiger Psychologiestudent, der gern über politische Themen diskutiert und gut Fußball spielt).
Die Unterscheidung zwischen automatischer und kontrollierter Informationsverarbeitung bei der Eindrucksbildung wird auch von der sozial-neurowissenschaftlichen Forschung unterstützt. Studien zeigen, dass bei einer subliminalen Darbietung von Bildern von (ethnischen) Fremdgruppenmitgliedern eine stärkere Aktivierung der Amygdala (einer mit Emotionen assoziierten Hirnregion) erfolgt als bei Bildern von Eigengruppenmitgliedern. Bei längerem (bewusstem) Betrachten von Fremdgruppenbildern scheinen hingegen Regionen, die für die Regulierung und Kontrolle von Reaktionen zuständig sind, vermehrt aktiviert zu sein (für einen Überblick: Ito/Bartholow 2009).
Die soziale Kognitionsforschung hat zahlreiche Modelle und empirische Befunde