Reinhard J. Wabnitz

Grundkurs Recht für die Soziale Arbeit


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auf die Freiheit, laute Musik auch nach Mitternacht zu hören, mit Blick auf die Öffnungszeiten von Gaststätten, insbesondere in Wohngebieten etc. Die Freiheitsrechte Einzelner müssen, da sie in Konflikt mit den Freiheitsrechten anderer stehen können, in diesen Fällen etwa durch Hausordnungen, Mietverträge, Sperrzeitenregelungen, das Gaststättenrecht u. a. begrenzt werden.

      Darüber hinaus würde eine grenzenlose Gewährleistung von Freiheitsrechten („freie Bahn dem Tüchtigen“) typischerweise zu einer erheblichen Ungleichheit der Menschen führen, zumeist zulasten der „Schwächeren“. Bereits an dieser Stelle wird deshalb offenkundig, dass die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, sowie übrigens auch der Freiheit und Gerechtigkeit sowie der Gleichheit und Gerechtigkeit, in einem geradezu unauflösbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen.

      Das Ziel der Gleichheit der Menschen entspricht der zweiten großen Forderung der bürgerlichen Revolutionen und späteren Verfassungen der Neuzeit. Auch im Grundgesetz sind mehrere Gleichheitsgrundrechte enthalten. Gemäß Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Weitere Gleichheitsgebote gemäß Art. 3 Abs. 2 und 3 betreffen die Gleichberechtigung von Männern und Frauen bzw. Benachteiligungsverbote wegen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Herkunft, des Glaubens, der religiösen und politischen Anschauung etc. Behinderte und nicht behinderte Menschen sind im Grundsatz gleich zu behandeln, ebenso wie eheliche und nichteheliche Kinder (vgl. Art. 6 Abs. 5 GG).

      Die Gewährleistung von Gleichheit stellt ein wichtiges Regelungsziel zahlreicher Rechtsnormen dar. Ganz allgemein ist es vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG Aufgabe aller staatlicher Institutionen und Behörden, alle Bürgerinnen und Bürger bei Vorliegen derselben Voraussetzungen gleich zu behandeln. Auch im Strafrecht gilt der Grundsatz, dass jeder unbeschadet der Person vor dem Gesetz „gleich“ ist. Die antike Göttin Justitia trägt deshalb eine Binde vor den Augen, damit „ohne Ansehen der Person“ gerichtet werde.

      Die verbundenen Augen der Justitia lehren aber auch, dass Gleichbehandlung eine Verallgemeinerung voraussetzt. Verallgemeinerung wiederum bedeutet Vergröberung und kann sich im Einzelfall wiederum als ungerecht erweisen. Ein reicher Mann kann seinen Schuldner ebenso auf Begleichung seiner Schulden in Anspruch nehmen wie ein Gläubiger, der darauf viel dringlicher angewiesen ist. Und ungerecht erscheint auch der häufig kolportierte Satz: „Jedem ist es verboten, egal ob reich oder arm, unter den Brücken von Paris zu schlafen“; dies erscheint deshalb als ungerecht, weil reiche Bürger gar nicht erst auf die Idee kommen würden, unter einer Brücke zu schlafen.

      Dass absolute Gleichheit zu sehr ungerechten oder unbefriedigenden Ergebnissen führen kann, zeigt auch das folgende lustige Beispiel. Ein Vater hat drei Söhne und möchte sie „gleich“ behandeln, indem er ihnen allen drei zu Weihnachten ein Schaukelpferd schenkt. Dieses „gleiche“ Geschenk hat aber bei den drei Söhnen sehr unterschiedliche Begeisterung ausgelöst, weil der eine Sohn drei Jahre, der andere sechs und der dritte 14 Jahre alt war. Die Verwirklichung absoluter Gleichheit führt also, isoliert betrachtet, oft zu unsinnigen oder ungerechten Ergebnissen.

      Bereits Aristoteles wusste: Bei der Frage der Gleichheit stellen sich häufig auch Fragen nach der Gerechtigkeit. Zuvor hatte Platon gefordert: Es sei nicht jedem genau das Gleiche, sondern jedem das ihm „Angemessene“, jedem das „Seine“ zu gewähren. „Suum cuique“, jedem das Seine, war deshalb eine alte Forderung auch des römischen Rechts. Und in ganz ähnlicher Weise hat sich im Mittelalter Thomas von Aquin geäußert: Die Menschen ins rechte Verhältnis zueinander setzen, ist Gegenstand der Gerechtigkeit.

      Die Frage nach der Gerechtigkeit ist eines der zentralen Themen der Philosophie und der Theologie, aber auch der politischen Theorie und der Rechtswissenschaft. Wie kompliziert diese „große Frage“ der Menschheitsgeschichte jedoch sein kann, zeigt bereits folgendes Beispiel aus archaischer Zeit (vgl. Arzt 1996, 22): Der älteste von vier Brüdern hatte eine große Ziegenherde von unbekannter Stückzahl; der zweitälteste, ein Schmied, hatte 30 Ziegen, der drittälteste, ein Lastträger, drei Ziegen. Der Jüngste besaß nichts, sollte jedoch Hirte werden. Dazu gaben ihm der älteste Bruder nichts, der Schmied fünf Ziegen und der Lastträger eine Ziege. Der Schmied besaß nun 25, der Lastträger zwei und der Hirte sechs Ziegen. Nach einigen Jahren hat sich der Bestand beim Schmied auf 50, beim Lastträger auf 10 und beim Jüngsten, der sich dem Geschäft von Berufs wegen widmete, auf 132 Ziegen vermehrt. Auch die Herde des ältesten Bruders hatte sich wesentlich vergrößert.

      Da stirbt der Jüngste. Sein Testament lautet wie folgt: Mein ältester Bruder, der mir in meiner Not nicht geholfen hat, soll nichts erben. Meine beiden anderen Brüder sollen meine Herde erben, wobei ich auf den Richter vertraue, dass er nach Anhörung dieser beiden Brüder meine Ziegen an sie gerecht verteilen werde.

      Wie hätten Sie nach Anhörung der Brüder die Ziegen aufgeteilt? Nach dem Sachverhalt gibt es mindestens fünf Alternativen für eine „gerechte“ Entscheidung:

      •Die erste Entscheidungsmöglichkeit könnte dahin gehen, die Herde von 132 Ziegen in zwei gleiche Teile aufzuteilen, so dass sowohl der Schmied als auch der Lastträger je 66 Ziegen erhielten. Dieser „Halbteilungsgrundsatz“, der zudem unkompliziert zu „handhaben“ ist, entspricht dem deutschen Erbrecht.

      •Eine andere Möglichkeit der Entscheidung könnte darin bestehen, die Ziegen nach dem Verhältnis aufzuteilen, wie der Schmied und der Lastträger seinerzeit Ziegen abgegeben hatten. Der Schmied hatte fünf Ziegen abgegeben, der Lastträger eine Ziege. Danach wären die 132 Ziegen im Verhältnis von 5:1 aufzuteilen, so dass der Schmied 110 und der Lastträger 22 Ziegen erhielte.

      •Eine weitere Variante wäre eine Aufteilung nach der damaligen „Opferquote“. Der Schmied hatte seinerzeit 1/6 seiner Ziegen abgegeben, der Lastträger 1/3. Dies entspräche einer prozentualen Opferquote von 1:2, so dass der Schmied 44 und der Lastträger 88 Ziegen erhielte.

      •Sodann könnten die Ziegen auch nach sozialen Gesichtspunkten verteilt werden, so dass derjenige mehr Ziegen erhielte, der bedürftiger wäre. Entsprechende „Billigkeitsentscheidungen“ nach Bedürftigkeit sieht das Recht an vielen Stellen vor.

      •Schließlich könnte auch erwogen werden, die genannten Alternativen für eine „gerechte“ Entscheidung ganz oder teilweise miteinander zu kombinieren. Solche „Kombinationsprinzipien“ gibt es nicht selten im Recht.

      Ich überlasse der Leserin und dem Leser die Einschätzung, welche Alternative die „gerechteste“ wäre. Allerdings könnten alle fünf Teilungsmethoden, je aus der Perspektive der Betroffenen betrachtet, als „gerecht“ angesehen werden. Auch der Gesetzgeber befindet sich nun häufig in exakt dieser Situation, zwischen mehreren denkbaren „gerechten“ (oder auch: ungerechten) Entscheidungsalternativen abwägen und sich dann für die eine oder andere Alternative entscheiden zu müssen. Damit wird deutlich, dass „Gerechtigkeit“ keine absolut feste Größe darstellt und häufig maßgeblich davon abhängt, aus welcher Perspektive, Betroffenheit oder Interessenlage heraus eine „gerechte“ Entscheidung getroffen werden soll.

      Und da es mitunter mehrere „gerechte“ Alternativen gibt und ggf. keinesfalls Einigkeit darüber besteht, wie etwas „gerecht“ geregelt werden sollte, bedarf es letztlich einer verbindlichen Entscheidung darüber, was rechtens sein soll. Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muss jemand festsetzen, was rechtens ist (Thomas Hobbes); und dies ist in modernen Zivilisationen der Staat, der durch gesetzgeberische Entscheidung festlegt, was in diesem Sinne „rechtens“ ist.

      Ein weiteres Ziel und eine weitere wichtige Funktion von Recht ist die Gewährleistung von Rechtssicherheit. Auch dazu zunächst zwei Beispiele:

      Beispiel:

      Familie F. (Vater, Mutter, drei Kinder) will ein Haus kaufen. Die Finanzierung ist nur möglich, wenn auch die vom Staat gewährten Beihilfen bzw. Steuervorteile in Anspruch genommen werden. Familie F. muss sich also darauf verlassen können, dass sich an den im Zeitpunkt der Kaufentscheidung bestehenden