und seine leere Ledertasche sowie einen Hut sicher, der offensichtlich nicht ihm gehört hatte. Den schwer verletzten, nicht ansprechbaren Thomas Briggs fand man neben den Gleisen zwischen den Bahnhöfen Bow und Hackney Wick. Briggs war auf den Kopf geschlagen worden. Danach hatte man ihn einfach aus dem Zugfenster geworfen. Er verstarb, kurz nachdem man ihn gefunden hatte.
Schon früher hatte es immer wieder Verbrechen in der Eisenbahn gegeben. Reisende waren bestohlen, in manchen Fällen auch ausgeraubt, bedroht oder belästigt worden. Nun aber war das erste Mal in der britischen Eisenbahngeschichte ein Mord in einem Zug passiert. Viele Reisende und Pendler waren entsprechend beunruhigt. Unter anderem auch deshalb setzte Scotland Yard viel daran, das Verbrechen schnell aufzuklären. Inspektor Richard Tanner wurde mit dem Fall betraut. Der Täter hatte Briggs goldene Taschenuhr und – wohl versehentlich – auch Briggs Hut mitgenommen. Die eigene Kopfbedeckung hatte er am Tatort zurückgelassen. Die Polizei konnte die Uhr bald bei einem Juwelier mit dem klingenden Namen John Death sicherstellen. Death hatte sie nach eigener Aussage von einem bleichen jungen Mann gekauft, den er für einen Deutschen hielt. Wohl auch angespornt durch die ausgeschriebene Belohnung von £300 meldete sich bald ein Kutscher namens Jonathan Matthews, der den auffälligen Hut des Täters wiedererkannt haben wollte. Durch seine Aussage fand die Polizei Namen und Adresse des Verdächtigen heraus. In seiner Unterkunft fand sie ihn aber nicht vor. Nach Auskunft seiner Vermieterin hatte sich Franz Müller bereits auf dem Segelschiff Victoria nach Amerika aufgemacht.
Eine funktionierende Telegrafenverbindung über den Atlantik sollte erst zwei Jahre später in Betrieb genommen werden. Wollte er den Verdächtigen nicht entkommen lassen, so hatte Inspektor Tanner nur die Möglichkeit, sich auf einem schnelleren Schiff nach New York aufzumachen. Gemeinsam mit dem Sergeant, der später auch die Verhaftung vornehmen sollte, und den beiden Zeugen Death und Matthews bestieg der Inspektor am 20. Juli – also fünf Tage nach Abfahrt der Victoria – das Dampfschiff City of Manchester und kam in New York sogar drei Wochen vor Müller an. Während der Wartezeit verbreitete sich in Nordamerika die Kunde über den spektakulären Mordfall in London, die transatlantische Verfolgungsjagd und die bevorstehende Ankunft des Mordverdächtigen in New York. Der Kapitän der Victoria wurde bei Einfahrt in die Lower Bay von einem Lotsen über seinen Passagier informiert. Gleichzeitig telegrafierte man vom Leuchtturm in Sandy Hook nach New York, dass die Ankunft des Seglers kurz bevorstehe – daher die Rufe vom Ausflugsschiff und die Schaulustigen am Strand von Staten Island. Franz Müller wurde schließlich von den USA an das Vereinigte Königreich ausgeliefert, zurück nach London gebracht und dort im Old Bailey vor Gericht gestellt. Seine Verteidigung übernahm ein Anwalt, der von der German Legal Protection Society gestellt wurde. Dennoch wurde Müller des Mordes für schuldig befunden, zum Tode verurteilt und schließlich am 14. November 1864 öffentlich erhängt.
Die britischen Medien berichten zwischen Juli und Oktober 1864 ausführlich über den Fall, der aus Sicht der Zeitgenossen sicherlich zu den aufsehenerregendsten Mordfällen im Großbritannien der 1860er-Jahre gezählt werden darf. Der Fall hatte alles, was es für eine spektakuläre Berichterstattung brauchte: einen brutalen Mord an einem ungewöhnlichen Ort, einen ausländischen Tatverdächtigen, eine transatlantische Verfolgungsjagd und jede Menge diplomatischer Verwirrungen – sowohl im Rahmen des Auslieferungsgesuchs an die Vereinigten Staaten wie auch hinsichtlich des Interventionsversuchs von Seiten des preußischen Königs Wilhelm, der mittels Telegramm an Königin Victoria erfolglos versuchte, die Hinrichtung Müllers verschieben zu lassen. Jenseits des zeitgenössischen Sensationalismus, der später in Kapitel III.3 im Zusammenhang mit der penny press nochmals kurz aufgegriffen wird, bietet diese ungewöhnliche Episode aber auch einen guten Einstieg für eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Mobilität und Kommunikation im langen 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Der Fall führt viele zentrale Aspekte der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte zusammen und macht sie in ihrer Bedeutung und Prägekraft für die zeitgenössischen Gesellschaften spürbar.
Mobilität und Kommunikation
Schauen wir zunächst einmal auf Franz Müller selbst. Er wurde im Jahr 1840 in einem kleinen Ort im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach geboren. Müller lernte das Schneiderhandwerk und war als Geselle hochgradig mobil. Im Mai 1859 kam er nach München, zog 1861 aber weiter nach Köln. Im März des Jahres 1862 machte er sich nach London auf, wohl schon mit der Absicht, von dort nach Amerika auszuwandern, sobald er die notwendigen finanziellen Mittel zusammen haben würde. Franz Müller steht damit stellvertretend nicht nur für unzählige Wandergesellen, die sich nach ihren Lehrjahren oft für einige Jahre auf Wanderschaft in fremde Länder und Regionen aufmachten. Er war zugleich einer von mehreren Millionen Deutschen und anderen Europäern, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit oder einfach einem besseren Leben verließen und anderswo – häufig in Nordamerika – ihr Glück suchten.[3]
Dann ist da natürlich der besondere Tatort, an dem Thomas Briggs angegriffen und ausgeraubt wurde. Sowohl das Mordopfer wie auch die beiden Bankangestellten, die das Blut entdeckten, waren Berufspendler. Sie arbeiteten in der Londoner Innenstadt, wohnten aber wie viele andere am Stadtrand oder in den Vororten. Dieses tägliche Pendeln über vergleichsweise lange Strecken wurde in größerem Maßstab überhaupt erst durch die Verfügbarkeit eines verlässlichen, regelmäßigen und bezahlbaren Verkehrsmittels wie der Eisenbahn möglich (siehe Kapitel III.1 und III.6). Seit den 1840er-Jahren entstanden in großen Teilen Europas und Nordamerikas Eisenbahnnetze, die den Personen- und Warenverkehr auf eine gänzlich neue logistische Basis stellten. In Großbritannien vollzog sich dieser Wandel besonders schnell und tiefgreifend. Die Eisenbahn wurde für viele Menschen schnell zu einem festen Bestandteil ihres Alltags – hinsichtlich ihres Berufslebens ebenso wie im Rahmen ihrer Freizeitgestaltung. Die gesellschaftliche Bedeutung des Zugverkehrs wird auch an der öffentlichen Beunruhigung über den so genannten Eisenbahnmord und die Diskussion über die Sicherheit von Eisenbahnreisen deutlich. Der Fall hatte am Ende sogar unmittelbare Auswirkungen auf die staatliche Regulierung des Eisenbahnwesens. Der 1868 verabschiedete Regulation of Railways Act sah neben vielen anderen Punkten auch vor, dass Passagiere an Bord eines Zuges die Möglichkeit haben mussten, in einem Notfall das Zugpersonal zu kontaktieren.[4]
Nicht zu vergessen ist zudem die Verfolgungsjagd über den Atlantik, die eines der narrativen Kernelemente der medialen Begleitung des Falles darstellte. Franz Müller schiffte sich für die Überfahrt nach New York auf dem Segelschiff Victoria ein. Bis die Polizei ihm auf die Spur kam, hatte er bereits mehrere Tage Vorsprung und wäre mit einem anderen regulären Transatlantiksegler wohl kaum einzuholen gewesen. Müller wäre in New York von Bord gegangen, und wenn er sich geschickt angestellt hätte, wäre es sehr schwer geworden, seiner habhaft zu werden. Inspector Tanner und seine Begleiter aber nahmen mit der City of Manchester einen Dampfer nach New York. Seit den 1840er-Jahren fanden immer mehr Dampfschiffe Verwendung im transatlantischen Linienverkehr (siehe Kapitel III.1). Diese waren unabhängiger von Wind und Strömung und konnten daher oft kürze Routen zwischen ihren Anlegeorten fahren. Mitte der 1860er-Jahre war die Dampfschifftechnik soweit fortgeschritten, dass die City of Manchester trotz späterer Abfahrt etwa drei Wochen vor der Victoria ihr Ziel erreichte und die Polizisten dort in aller Ruhe Vorbereitungen für Müllers Verhaftung treffen konnten. Trotz ihres gut funktionierenden Dampfantriebs war aber auch die City of Manchester wie praktisch alle Dampfschiffe dieser Zeit zusätzlich mit Segeln ausgestattet. Gegen Ende ihres Dienstes wurde der Dampfantrieb ausgebaut und das Schiff noch einige Jahre unter Segeln betrieben.[5] Die City of Manchester ist damit ein typisches Beispiel für die Gleichzeitigkeit verschiedener Mobilitätsformen.
Nur zwei Jahre später wäre die Verfolgung über den Atlantik nicht mehr nötig gewesen und wohl in dieser Form auch nicht mehr durchgeführt worden. Nach mehreren gescheiterten Versuchen seit den späten 1850er-Jahren ging 1866 eine dauerhafte telegrafische Verbindung über den Atlantik in Betrieb. Scotland Yard hätte ab dieser Zeit die amerikanischen Kollegen relativ einfach per Telegramm über die bevorstehende Ankunft eines Mordverdächtigen informieren können. Aber auch im tatsächlichen Geschehen ist der Telegraf als Kommunikationsmittel präsent. So wird die Ankunft der Victoria vom Leuchtturm in Sandy Hook telegrafisch nach New York weitergegeben. Eine