Sandra von einem solchen Eingriff aber nichts mehr wissen will, was dann?“
„Ich hoffe, sie hört auf Oliver“, sagte Dr. Krautmann.
„Wirst du mit ihm reden?“
„Das habe ich bereits getan.“
„Und?“ Julian sah seinen Vater gespannt an.
„Er wird alles versuchen, um Sandra zu einer zweiten Operation zu überreden“, erklärte Florian Krautmann.
32. Kapitel
Es dauerte zwei Wochen, bis Oliver die Gelähmte so weit hatte, dass sie bereit war, sich einer zweiten Operation zu unterziehen. Er war noch nie hartnäckiger gewesen, versuchte sie mit allen erdenklichen Tricks weichzubekommen, doch erst als er sie anflehte, dem Eingriff um seinetwillen zuzustimmen, gab sie nach. Dr. Frank bereitete sich gewissenhaft auf die Operation vor, und er hatte ein langes Gespräch mit seinem Kollegen aus Freiburg. Dieser sagte aber gleich, dass man um einen dritten Eingriff nicht herumkommen würde. Mit der zweiten Operation könne man lediglich die Ausgangsposition für den nächsten Schritt optimieren, der darin bestehen würde, dass man der Patientin bleistiftdicke Gewindestäbe aus Metall mit Widerhaken einpflanzte, wonach man darangehen könne, den deformierten Wirbelsäulenabschnitt nach dem umgekehrten Schraubstockprinzip zu strecken und zu begradigen.
All das besprach der Neurochirurg nicht nur mit Dr. Daniel Frank, sondern in weiterer Folge auch mit der Patientin, und er verschwieg Sandra Falkenberg nicht, dass alles auch vergebliche Liebesmühe sein könne, aber die vagen Chancen seien auf jeden Fall den Versuch wert.
Einmal in der Wiesenhain-Klinik, gab es für Sandra kein Zurück mehr. Ihr Entschluss stand fest: Jetzt wollte sie’s um jeden Preis durchfechten. Entweder würde sie nach dem letzten Eingriff wieder gehen oder sich sagen können, sie habe nichts, absolut gar nichts unversucht gelassen.
Am Tag der zweiten Operation war Oliver bei ihr. „Wenn es möglich wäre, würde ich mich an deiner Stelle operieren lassen“, sagte er mit belegter Stimme.
„Ach, Oliver, du bist so – lieb …“
Er beugte sich über sie. „Ich drück’ dir die Daumen.“
Sie sah ihn wehmütig an. „Ich mache dir so viele Sorgen.“
Er lächelte. „O ja, du bist im Moment mein großes Sorgenkind, aber es werden auch wieder bessere Zeiten für uns anbrechen.“ Er nahm ihre Hand. „Wir haben eigentlich noch nie einen Walzer miteinander getanzt.“
„Ja, das stimmt.“
„Das müssen wir unbedingt nachholen“, erklärte Oliver.
„Du kannst ja gar nicht tanzen.“
„Bis du wieder gehen kannst, kann ich’s“, gab Oliver lächelnd zurück.
Sandra bekam die vorbereitende Injektion, und wenig später wurde sie von einem Pfleger abgeholt.
„Alles Gute“, krächzte Oliver, während der Pfleger das Bett zur Tür hinausrollte. „Hab keine Angst, Liebes. Hab keine Angst.“ Ein dicker Kloß befand sich in seinem Hals und machte ihm das Sprechen zur Qual.
Als der Pfleger Sandras Bett in den Aufzug rollte, winkte sie ihm ein letztes Mal. Er winkte zurück, und kurz danach war sie weg.
Schreckliche Bilder ängstigten Oliver Wiechert mit einem Mal zu Tode: Sandra im Operationssaal … Grüne OP-Kittel, grüner Mundschutz … Das OP-Team im Einsatz … Chirurgisches Besteck… Tickende, piepsende, zischende Apparate … Eine klaffende Wunde … Blut … Plötzlich die hysterische Meldung „Herzstillstand!“ … Herzmassage … Elektroschocks … Eine Adrenalinspritze mitten ins Herz … Wieder E-Schocks … Doch Sandras Herz begann nicht mehr zu schlagen …
Und ich – ich habe sie zu dieser Operation überredet!, dachte Oliver entsetzt, während er sich mit der Hand kalte Schweißperlen von der Stirn wischte.
33. Kapitel
Sandra Falkenberg überstand den zweiten Eingriff besser als den ersten. Die Mitglieder der Clique sprachen sich untereinander ab und erstellten einen genauen Besuchsplan, damit Sandra sich täglich über irgendjemandes Besuch freuen konnte.
Alle auf einmal hätten ohnedies nicht zu ihr gedurft. Ausgenommen von dieser freiwilligen Regelung war selbstverständlich Oliver.
Er besuchte Sandra jeden Tag zweimal und überzog die festgesetzten Zeiten mit großer Regelmäßigkeit, doch niemand wies ihn deshalb zurecht, denn schließlich tat der Patientin seine Nähe gut.
Es waren insgesamt vier Operationen nötig, und immer lagen vier bis sechs Wochen dazwischen. In dieser Zeit baute Oliver das geliebte Mädchen immer wieder auf und schenkte ihm neue Hoffnung. Noch warteten die beiden bang auf das Wunder, das der Himmel geschehen lassen musste, damit Sandra wieder gehen konnte. Nach der dritten Operation begann Sandra mit einer speziell auf sie abgestimmten Physiotherapie.
Galvanische Bäder sollten die Reizleiter der nunmehr von jeglichem Druck befreiten Nervenbahnen aktivieren. Gefühlvolle Massage sollte die Durchblutung der Beine und des gesamten Bewegungsapparats verbessern.
Es wurde in der Wiesenhain-Klinik sehr viel getan, um Sandra zu helfen, und man ließ es bei allen Therapien nicht an Behutsamkeit, Fingerspitzengefühl und Geduld mangeln, doch der erhoffte Erfolg hatte sich bislang noch nicht eingestellt. Ohne den unermüdlichen Zuspruch von Oliver und der gesamten Clique hätte die junge Patientin mit Sicherheit resigniert. So aber fühlte sie sich ihren Freunden, die stärker an einen positiven Genesungsverlauf glaubten als sie, verpflichtet, durchzuhalten.
Übungen, Messungen, Tests … jeden Tag. Immer wieder. Für Sandra waren es immer dieselben Resultate, doch Dr. Krautmann, Dr. Frank und der Neurochirurg aus Freiburg zeigten sich von Mal zu Mal zufriedener. Versuchen sie Zweckoptimismus zu verbreiten, oder werden die Ergebnisse tatsächlich von Tag zu Tag besser?, fragte sich Sandra. Wenn ja, wieso merke ich dann nichts davon?
Eines Nachts wurde sie von einem leichten ziehenden Schmerz im linken Fuß geweckt. Zunächst begriff sie die ungeheure Bedeutung dieser Empfindung gar nicht, doch dann wurde ihr urplötzlich klar, dass sie zum ersten Mal seit Langem wieder etwas spürte!
„O mein Gott!“, schluchzte sie überglücklich. „O mein Gott, ich fühle, und wenn es auch nur ein Schmerz ist! Ich spüre ihn! Also bin ich nicht mehr zur Hälfte tot!“
Sie drückte auf die Nachtglocke. Schwester Annegret erschien sogleich. „Was gibt es, Kindchen?“, fragte die alte Pflegerin mit gütigem Lächeln.
„Schwester …“, stieß Sandra außer sich vor Freude hervor.
„Was kann ich für Sie tun? Haben Sie Durst?“
„Nein“, antwortete Sandra Falkenberg. Ihr Herz schlug wie verrückt. „Mein Fuß, mein linker Fuß …“
„Was ist damit?“
„Er tut mir weh.“
„Ich hole sofort Dr. Balzer …“ Annegret drehte sich um und wollte aus dem Zimmer eilen, doch im gleichen Augenblick wandte sie sich wieder der Patientin zu. „Moment mal, haben Sie eben gesagt, Ihnen tut der linke Fuß weh?“
„Ja.“
Schwester Annegret riss begeistert die Augen auf. „Aber das ist ja wunderbar!“
Sandra lachte und weinte. „Ich spüre meinen linken Fuß.“
„Und den rechten – spüren Sie den auch?“
„Nein.“
„Versuchen Sie ihn zu bewegen.“ Schwester Annegret schlug die Decke am Fußende hoch und nahm ein leichtes Zucken der Zehen wahr. „Noch mal.“ Die Zehen zuckten wieder. „Noch mal.“ Jetzt bewegte