ist Broadway, Ecke Houston Street«, nahm ich an, ein Block parallel und acht nach Süden. Brannte das Angelika-Kino?
Nach einer Erklärung suchend sah ich mich um. Niemand sonst blickte nach oben. Dann ging ein Mann schnell an mir vorbei, der in sein Mobiltelefon sprach. »Gerade ist ein Flugzeug ins World Trade Center gekracht«, sagte er.
Ich dachte: »Aber das ist dreißig Blocks entfernt. Was für ein kranker Witz«, lief ihm trotzdem hinterher und zupfte ihn am Ärmel. »Stimmt das?«, fragte ich.
»Ja«, sagte er, ohne stehen zu bleiben.
Ich musste auf meine Kopien warten, also kaufte ich mir einen heißen Kakao und blieb, wo ich war, unter der schwarzen Würfelskulptur auf dem Astor Place. Bemerkten noch andere den Rauch?
Die meisten nicht. Das frühe Licht fiel auf Hunderte Gesichter von Menschen, die Richtung Broadway drängten oder Treppen hinabfluteten, um U-Bahnen zu erreichen. Männer schoben Besen oder trugen Aktentaschen, Schulmädchen knoteten ihre Uniformblusen hoch. Wahlkampfteams, zum Wahltag angetan mit ihren besten Sachen, verteilten Flyer für die Bürgermeister-Vorwahlen. Typen in einem Lieferwagen hupten Typen in einem Auto an. Frauen joggten vorbei und vollführten dann dieses komische Auf-der-Stelle-Weiterlaufen an den Fußgängerüberwegen. Und eine Studentin – als Rückblick auf den Trend von 1999 – stieß und stieß und stieß mit flatterndem Sommerkleid die Lafayette entlang ihren silbernen Roller an, ihr Gesicht in der Sonne wie noch heißes neues Glas. Der Astor Place sah aus wie ein Bild von Edward Hopper, seine unterschiedlich breiten hellen Flächen wuselnd voll an diesem makellos blauen Septembertag. Wenige Leute, meistens welche mit Mobiltelefonen, starrten hoch zu dem sich entfaltenden Horror, manche zeigten nach oben.
Und eine einzige Frau rannte, kämpfte sich durch, ihr feiner Schal wehte hin und her. Ich konnte von der anderen Straßenseite aus das Weiße in ihren Augen sehen.
Natürlich musste ich meine Kopien noch abholen. Ich war wie die anderen: eine Geisel meiner sogenannten Zukunft. Wir steckten weiter in der alten Welt, und diese Frau war schon in eine neue eingebrochen.
Sehen kann, sehen konnte
Ich kam in den Copyshop und hörte jemanden brummeln: »Scheiß Terroristen«.
»Das ging schnell«, dachte ich. »Woher will er wissen, dass es kein Unfall war?«
Ich wollte mit Kreditkarte bezahlen, aber die Frau sagte: »Alle unsere Verbindungen sind tot wegen dem, was gerade passiert ist.« Sie holte ein Formular hervor, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass es das gibt; ich füllte es aus, und sie sagte, sie würde die Zahlung später durchführen. »Hier war eben ein Mann«, sagte sie. »Der war zu spät dran gewesen für ein Meeting im World Trade Center und zitterte richtig.« Sie sah nach draußen. »Ich hoffe, es ist nicht so schlimm, wie’s aussieht.«
Das Ungeheuerliche dieses Morgens schlug sich bei mir zuallererst in einer logistischen Frage nieder: Von wo aus könnte ich am besten etwas sehen? Von wie weit weg? Von wie hoch? »Ich wohne im East Village; meine Fenster gehen nach Süden. Ich habe ja die zarten Baumschatten an den Gebäuden auf der anderen Straßenseite gesehen.« Ich hatte vergessen, und es fiel mir dann wieder ein, dass ich das World Trade Center von meinem Fenster aus jeden Tag sehen kann, sehen konnte.
Ich stieg vier Treppen hoch, setzte mein Zeug ab und ging in den vorderen Raum.
Was ich vom Fenster aus sah
Beide Türme brannten. Konnte das Flugzeug quer durch beide geschlagen sein?
Ich hatte nie darauf geachtet, wie schuppenartig ihre Fenster aussahen. Beide Gebäude sahen aus wie abbrennende Fische. Wie Jennifers geräucherter Fisch auf seinem Wachspapier, nur in Brand geraten.
Wie zwei Lungenflügel, nur in Brand geraten.
Wie zwei Bienenkörbe: intakte Zellen unten, zerstörte Zellen oben, eine orange Flammenschicht als Trennmarke zwischen vollständig und verwüstet.
Dann hüllte Rauch den Südturm ein, und weg war er.
Es war einmal
Vor fünf Jahren bin ich mit zwei Freundinnen hierhergezogen, Jan und Janna. Verliebt in unser neues Leben nahmen wir die U-Bahn rauf zu den Cloisters im Norden und runter zum Battery Park im Süden. Wir nahmen die schaukelnde Seilbahn über den Fluss nach Roosevelt Island, wir fuhren Kajak auf dem Hudson, wir spazierten über die Brooklyn Bridge.
Einmal nahmen wir spätabends den Aufzug zur obersten Etage des World Trade Centers. Es gab da eine Stelle, wo man kostenlos aus dem Fenster schauen konnte.
Die Welt, die wir sahen, war schwarz und blau und golden, Keile und Säulen aus hellen Fenstern und dunklem Stahl. Kleine, aber gut sichtbare Männer und Frauen machten Nachtschicht an ihren Schreibtischen, eingerahmt und erleuchtet wie byzantinische Heilige.
Die Bauten strahlten aufwärts, erhellten den Himmel und sich gegenseitig in der Höhe. Weit unten sahen wir winzige Straßen, deren bloße Namen schon – innerhalb einer Reißbrettstadt aus nummerierten Gebäudeblöcken und Fahrdämmen – schummrig, schmal und nach Dickens klangen: Old Slip, Coenties Slip, Thames, Vesey, Gouverneur und Maiden Lane. Von oben bildeten sie in der Nacht ein dunkles Filigran, eine Patina, aus der die leuchtenden Türme umso heller aufflammten.
All das machte uns ganz schwach vor Wonne. Als wir uns sattgesehen hatten, nahmen wir den Aufzug wieder hinunter, schauten hoch in dessen verspiegelte Decke und drehten uns mit ausgebreiteten Armen im Kreis. Und jede von uns sagte auf ihre Weise dieses Gebet an die Stadt, die wir eben gesehen hatten: »Ergreife mein Herz. Nimm mich mit.«
Es ist kein Unfall
Nachdem ich den Südturm verschwinden gesehen hatte, schaltete ich das Radio ein, und Sharon rief an. »Ich hab schon mal angerufen. Hast du meine Nachricht bekommen?«
»Ich hab keine Nachrichten abgehört; das World Trade Center stand in Flammen.«
»Das Pentagon haben sie auch getroffen.«
»Was für ein Pentagon? Gibt es in Manhattan einen fünfeckigen Park?«
»Nein, das Pentagon-Pentagon.«
»O Gott. Es sind also zwei Flugzeuge gewesen?«
»Nein, es sind drei Flugzeuge gewesen. In jeden Turm ist ein Flugzeug geflogen, und eins ins Pentagon.«
Mein Herz schlug heftig, und meine Hände wurden kalt und kribbelten.
»Auch wenn die Stadt nicht brennt«, sagte ich, »könnte es sein, dass sie Strom und Wasser abstellen. Ich sollte Essen besorgen. Rufst du mich in einer Dreiviertelstunde noch mal an?«
»Ich werd’s versuchen, aber ich krieg immer öfter Besetztzeichen.«
Ich griff gleich noch mal zum Telefon, um meine Mutter anzurufen, aber ich kam nicht durch.
Nur wir selbst, noch mehr als sonst
»Sharon?«, sagte ich, als das Telefon noch mal geklingelt hatte.
»Ich bin’s, Akiko. Bist du okay? Sharon auch? Und deine Freundinnen?«
»Ja, ja, bis jetzt ja. Und du? Und dein Mann?«
»Ja, ja. Bei uns sagt man, das ist kowai«, sagte sie. »Das ist gruselig.«
»Aha, kawaii bedeutet niedlich, aber kowai gruselig.«
»Ja,