Ellis Avery

Die Tage des Rauchs


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wird das ein bisschen schwierig. Vielleicht ein anderes Mal.«

      »Ja, das würde mich freuen.« Sie machte eine Pause. »Meinst du, ich sollte heute den Kurs besuchen?«

      »Vielleicht ist zu Hause bleiben besser«, sagte ich.

      »Okay. Kiotsukete«, sagte sie, »mach’s gut.«

      »Pass auf dich auf, Akiko-san«, sagte ich.

      Akiko und ich erlernten zusammen die japanische Teezeremonie und halfen uns gegenseitig beim Japanisch- und Englischüben. Ich fühlte mich davon geschmeichelt, dass sie glaubte, ich würde wissen, was jetzt zu tun sei.

      Ich dachte über sie da ganz allein in ihrer Hochhauswohnung in der 9. Etage nach. Wenn ihr Gebäude in Brand geraten würde, könnte sie in der Falle sitzen. Wenn der Strom ausfallen würde, müsste sie die ganzen Treppen runter. Und wenn sie aus ihrer Wohnung geflüchtet wäre, wäre es entsetzlich für sie, völlig allein und mit ganz gutem, aber nicht herausragendem Englisch ihren Mann suchen zu müssen. Ich dachte an den Teekurs, das flache Gebäude, den tief gelegenen Keller mit seinen Steinmauern, die vollkommene Ruhe der Lehrenden, die Anwesenheit anderer Japanisch Sprechender.

      Beim dritten Versuch kam ich mit dem Anruf durch. »Vielleicht solltest du doch zum Kurs gehen«, sagte ich. »Vielleicht ist das sicherer. Kannst du deinen Mann anrufen und ihm die Nummer von dort geben?«

      »Okay«, sagte sie. »Danke fürs Anrufen.«

      »Kiotsukete«, sagte ich.

      »Pass auf dich auf«, sagte sie.

       Zwei Sekunden

      Nach Akikos Anruf machte ich mich auf zum Einkaufen. Als ich losging, stand der Nordturm da wie ein Körper mit aufgesägter Brust und flammendem Herzen darin. Ich hörte die Sirenen durch die Second Avenue heulen und war mir immer noch sicher, dass die Feuerwehr ihn retten könnte.

      Ich kaufte vier Liter Wasser, einen Liter Sprudel, tiefgefrorene Teigtaschen mit Shrimps (falls Herd und Kühlschrank weiter funktionieren sollten), einen Beutel Babymöhren, drei Joghurts, zwei Gemüsesäfte, einen Orangensaft und eine Packung Cracker. Und weil sie ja vielleicht meine letzten sein konnten, kaufte ich mir Leckereien: einen Becher Cashewmus, Toblerone, frische Feigen. Ich entdeckte noch eine Packung Kerzen und kaufte auch die.

      Als ich so meine Einkaufskörbe füllte, sah ich ein ganz kleines Kind systematisch jeden einzelnen Schokoriegel anfassen, während die drängelnde Stimme einer Frau nach »Lucy! Lucy!« rief. Schließlich schnappte sich die Frau ihr Kind und rüttelte es kurz. »Ich dreh mich für zwei Sekunden um, und was passiert?«

      Glotzend wie ein Survival-Yuppie stand ich mit meinen schweren Einkaufskörben an der Kasse hinter einem Mann, der völlig gelassen eine einzelne Chipstüte kaufte, und hinter Lucy und ihrer Mutter, die ein Trinkpäckchen und Blattsalat kaufte. Ich fühlte mich wie diese einsam rennende Frau vom Astor Place.

      Als ich nach draußen kam, scharten sich auf dem Gehweg zwanzig Leute um einen Fernseher, und jemand filmte sie dabei.

      Und auf dem Weg nach Hause sah mir ein Mann in die Augen ohne Flirtversuch. »Ist das nicht furchtbar?«, sagte sein Gesichtsausdruck. Sein Mitgefühl brannte sich mir irgendwie ein.

      Und als ich oben auf der Treppe ankam und aus dem Fenster sah, war der Nordturm verschwunden.

       Möglichkeiten

      Der Himmel war voll mit schwarzem Rauch. Er rollte sich in ausgeprägten Formen, dick und beulig wie sich aufblähende Gehirne, voran. Ich schaltete das Radio ein, und Sharon rief wieder an.

      Ein weiteres entführtes Flugzeug war außerhalb von Pittsburgh abgestürzt. Sie hatte eine halbe Stunde gebraucht, um durchzukommen.

      »Im Radio sagen sie gerade, dass man nach Norden gehen soll, wenn man sich südlich der Canal Street befindet. Wenn die anfangen zu sagen, dass man weggehen soll, wenn man sich südlich der Houston Street befindet, verschwinde ich«, sagte ich. »Diese Mietsbruchbuden hier dürften abfackeln wie Papiertaschentücher. Sollte alles brennen, werde ich zum Central Park und da in den See gehen. Ich hab meine Computerfestplatte schon in einen Zipverschlussbeutel gepackt, und ich such gerade noch was, womit ich meine Brille an meinem Kopf festbinden kann. Das hört sich jetzt bestimmt alles total bescheuert an. Und klar, wenn das Feuer nach Norden umschwenkt, kann ich auch zur Teezeremonie gehen und mich da im Keller verstecken. Aber wenn jetzt noch ein Flugzeug ins Empire State Building kracht, könnte das Feuer gleichzeitig von Norden und von Süden kommen. Dann würde alles in der Stadt zusammenbrechen: Die gesamte Feuerwehr wäre downtown, es würde niemanden mehr geben, der hergeschickt werden könnte. Also müsste wohl ich zum Wasser gehen. Da gibt’s doch diese zwei dicken Styroporteile, die ich unter der Treppe gesehen hab. Ich könnte die zusammenbinden und über den East River nach Brooklyn surfen. Sollte ich die mal holen?«

      »Ja.«

      »Leg nicht auf. Bin gleich zurück. – Hi.«

      »Hi. Hast du sie zusammengebunden?«

      »Noch nicht.«

      »Mach’s besser sofort. Haben wir irgendwas Wasserfestes?«

      »Es gibt Klebeband«, sagte ich. »Mein Gott, das ist so verrückt.«

      Wir saßen still am Telefon, hörten Radio und die Sirenen. Eine von uns sagte: »Es ist unerträglich, gerade jetzt nicht bei dir zu sein.«

      Sharon war in ihrem Büro in Princeton, und Manhattan war abgeriegelt mit Ausnahme der Fähren und des Brückenübergangs für Fußgänger. Es fuhren keine U-Bahnen, auch keine New-Jersey-Transit-Züge.

      Ich hätte über eine der Brücken nach Brooklyn gehen und da versuchen können, ein Taxi zu finden, das willens gewesen wäre, mich durch Brooklyn nach Staten Island zu fahren und über die Bayonne Bridge nach New Jersey. Aber was dann?

      Ich hätte auch zu Fuß 173 Blocks überwinden und über die George Washington Bridge nach New Jersey kommen können. Aber was dann?

      Oder ich hätte eine der Fähren über den Hudson nach New Jersey nehmen können. Aber was dann?

      »Na ja, vom Flughafen Newark bis nach Princeton sind es 90 Dollar mit dem Taxi. Wenn du eins finden kannst.«

      Unser Plan: Wenn sie Züge reinlassen, würde Sharon nach Hause kommen. Wenn sie Züge rauslassen, aber nicht rein, würde ich zu ihr kommen. Sollte Manhattan abgeriegelt bleiben, würde sie in New Jersey bleiben, und ich würde bleiben, wo immer es hier am sichersten wäre. Wir machten eine Liste von Orten in Princeton, wo sie bleiben könnte, und von Nummern, über die ich Kontakt aufnehmen könnte, alles nacheinander geordnet, falls wir uns jeweils dort nicht finden sollten. Angefangen mit Liz, meiner Lieblings-Englischlehrerin an der Highschool, und am Schluss das Novotel-Hotel an der Route 1.

      »Ruf meine Mutter an«, sagte ich. »Und ruf Loudi in Brooklyn an, um zu sagen, wo du gerade bist. Nach Brooklyn kriege ich eine Verbindung, aber nicht zu dir.«

      Ich rief dann alle Freunde an, die ich erreichen konnte. Das schnurlose Telefon fiel aus; ich benutzte eins mit Wählscheibe, das ich mal als Bühnenrequisit gekauft hatte. Meine Freundin Loudi rief mit Neuigkeiten von Sharon an: Sie hatte meiner Mutter eine Nachricht hinterlassen können, und sie hatte Liz erreicht, natürlich könnte Sharon bei ihr übernachten, auch wir beide könnten. Alles, was ich jetzt noch tun konnte, war, während der Rauch weiter emporquoll, am Radio abzuwarten, bis gesagt werden würde, dass ich zu ihr kann, dass die Züge wieder rausfahren.

       Was ist passiert?

      Neunzehn mit Teppichmessern bewaffnete Männer hatten die militärischen und wirtschaftlichen Zentren meines Landes angegriffen. Die zwei höchsten Bauten in meiner Stadt, jedes 110 Stockwerke hoch, waren in sich zusammengesunken, ihre Stahlkonstruktion