Kai Pannen

Die magische Schwelle


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war Johanns einzige Reaktion.

      »Genau, warum überlässt du sie nicht lieber Flo, bevor sie nur sinnlos herumsteht?«, fragte Tanja.

      »Weil sie dann am Ende so zerschrottet ist, dass ich sie auch gleich in die Tonne hauen kann. Es ist eine empfindliche Modellbau-Anlage, keine Carrera-Bahn!«

      Flo war sauer und vor allem enttäuscht. Es war immer dasselbe mit seinem Vater und ihm. Er traute ihm einfach nichts zu.

      »Wollen wir nicht zusammen was spielen?«, schlug Heidi vor, um die Stimmung zu retten. »Wie wärs mit ’ner Runde Mensch ärgere dich nicht

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       DER SCHRITT ÜBER DIE SCHWELLE

      Im Deutschunterricht nahmen sie gerade Gullivers Reisen durch und mussten als Hausaufgabe das erste Kapitel daraus lesen. Flo las gerne. Er lag auf seinem Bett und war tief in das Buch versunken. Gedankenverloren kraulte er seinen verschlissenen Teddy, alte Angewohnheit. Coole Jungs taten so was natürlich längst nicht mehr, aber wer sollte es schon erfahren?

      Spielten coole Jungs in seinem Alter eigentlich noch Auto-Verfolgungsjagden? Oder mit Modelleisenbahnen? War das noch normal?

      Immerhin gab es eine Menge Erwachsener, die sich für Modelleisenbahnen begeisterten. Dann hieß es halt nicht mehr spielen, sondern einem Hobby nachgehen. Sein Vater war auch kein Kind mehr gewesen, als er die Eisenbahnanlage ausgebaut hatte. Aber das war lange vor Flos Geburt gewesen. Wann hatte Flo zum letzten Mal gesehen, dass sich Johann mit seinem Hobby beschäftigt hatte? Er interessierte sich eigentlich schon lange nicht mehr für die Anlage. Das war natürlich keine Freigabe dafür, sie so zu verwüsten.

      Flo klappte das Buch zu. Er musste die kleine Welt wieder in Ordnung bringen, alles wieder so herrichten, wie es vor dem großen Zugunglück gewesen war.

      ›Dann merkt Papa natürlich erst recht, dass jemand in der Kleinen Freiheit war‹, überlegte Flo. ›Aber andererseits freut er sich vielleicht auch, wenn alles wieder heile ist. Und ich kann ihm beweisen, dass ich alt genug für die Modelleisenbahn bin.‹

      Als Erstes setzte er die verunglückten Züge zurück auf die Schienen und stellte die umgefallenen Bäume in Reih und Glied an den Straßenrand. Die kleinen Plastikfiguren positionierte er an ihrem angestammten Platz und dem bedauernswerten Herrn Müller setzte er mit einem Tröpfchen Kleber den Arm wieder an. Im Handumdrehen sah die Anlage wie vorher aus, als habe es nie ein großes Zugunglück gegeben.

      Flo betrachtete sein Werk und war ein bisschen stolz auf sich. Jetzt, da alles wieder in Ordnung war, konnte er doch noch ein bisschen mit der Anlage spielen?

      »Ich bin auch vorsichtig«, murmelte sein Spieltrieb.

      »Das gibt nur wieder Ärger. Letztes Mal wollte ich doch auch vorsichtig sein«, mahnte ihn sein schlechtes Gewissen.

      »Ach, krieg dich wieder ein, ich schalte auch keinen Strom ein.«

      Um auf der Eisenbahnanlage nichts unnötig anzurühren, womöglich gar kaputt zu machen, nahm Flo das kleine Chevrolet-Modellauto aus dem Regal. Es war ein genaues Abbild ihres Oldtimers, der draußen unter dem Carport stand. Sein Vater hatte ihn irgendwann mal in dessen Kofferraum gefunden. Vom Maßstab her war das Modell zwar etwas zu groß für die Eisenbahnanlage, aber das störte Flo nicht weiter. Er schob den Wagen über die dicht bevölkerte Straße zwischen Konzertbühne und Fußballstadion und achtete darauf, kein Figürchen zu überfahren. Auf der breiten Landstraße gab er dem Chevi einen etwas zu kräftigen Schwung, sodass er in der nächsten Kurve auf der Wiese mit dem Bauern landete, der gerade seine Kühe melkte.

      »Nichts passiert, alles in Ordnung!«, rief Flo, als säße er selbst im Wagen.

      »Es ist doch immer das Gleiche mit dir, du Rowdy. Kannst du dich denn nicht einmal beherrschen?«, schimpfte der Bauer.

      »Tut mir leid. Aber ich werde von einem Riesen verfolgt …«, entschuldigte sich Flo.

      Das war eigentlich eine gute Idee, sich von einem Menschenberg, so groß wie Gulliver in Liliput, verfolgen zu lassen. »Aber lieber nicht auf der empfindlichen Modelleisenbahn«, mahnte das schlechte Gewissen.

      »Hast recht. Ich spiele besser im echten Chevrolet weiter«, sagte der Spieltrieb.

      In der Küche versorgte Flo sich mit ein paar Keksen und sah durchs Wohnzimmerfenster Heidi und Gianna in ihre Handys vertieft auf der Terrasse sitzen. Die Verfolgungsjagd musste kurz warten. Erst musste er sie mit einer kleinen Erfrischung in die Wirklichkeit zurückbefördern. Und so füllte er seine Wasserpistole, die er schnell aus seinem Zimmer holte.

      Vorfreudig kichernd schlich er zur Haustür hinaus und öffnete sicherheitshalber schon mal die Fahrertür des Chevrolets. Vorsichtig blickte er um die Hausecke auf die Terrasse. Die beiden glotzten immer noch auf ihre Handys und bemerkten ihn nicht. Selbst schuld, wenn sie nichts mitbekamen. Als sie der harte Wasserstrahl traf, war es mit der Ruhe vorbei.

      »Flo! Spinnst du jetzt total?«, schrie Heidi und sprang auf.

      »Ey, mein Handy. Wenn das nass wird …!« Auch Gianna schoss vom Stuhl hoch und stürzte auf Flo zu.

      Flo hatte natürlich mit dieser Reaktion gerechnet, rettete sich blitzschnell in den Chevrolet und verriegelte die Türen von innen.

      »Komm da sofort raus und hol dir eine ab!«, brüllte Heidi und hämmerte gegen die Tür.

      »Nö, keine Lust«, sagte Flo und zeigte ihnen ein hämisches Grinsen.

      »Na warte. Wir haben Zeit. Lassen wir dich halt ein bisschen da drin schmoren! Du bist ja gut versorgt. Wenn du Durst hast, trink einfach deine Wasserpistole leer.«

      Flo kicherte über seinen gelungenen Streich. Und als die beiden um die Ecke auf die Terrasse verschwunden waren, fiel ihm der Riese wieder ein, der ihm immer noch auf den Fersen war.

      Mit quietschenden Reifen raste er davon. Wie bei einem Erdbeben erschütterten die Schritte seines Verfolgers den Boden. Die Tachonadel kletterte über die 100-Meilen-Marke. Doch der Gigant kam immer näher. Es gab nur noch eine Chance. Flo raste direkt auf den Kanal zu. Kurz hinter dem Strommast riss er entschlossen das Lenkrad herum, der Wagen schleuderte mit qualmenden Reifen bis fast zur Uferböschung. Der Riese aber stolperte in seiner blinden Wut über die Stromkabel. Es zischte und blitzte und vom Stromschlag betäubt, flog er in hohem Bogen in den Kanal. Flo brachte den Wagen sicher zum Stehen und genoss den Applaus der Leute, die aus ihren Verstecken heraus das Geschehen beobachtet hatten.

      »Tja, mein lieber Gernegroß«, sagte Flo lässig, »wurde mal Zeit für so ein Bad, du müffelst ein wenig.«

      Ein paar Seeleute schnappten sich dicke Schiffstaue und fesselten den bewusstlosen Riesen, bevor er auf ein Containerschiff verladen wurde.

      Jetzt, da der Riese besiegt war, tauchte Flo wieder aus seiner Fantasiegeschichte auf. Ob er es wagen konnte, ganz leise die Tür zu öffnen und sich in sein Zimmer zu schleichen? Heidi und Gianna wurden doch bestimmt wieder von ihren Handys hypnotisiert.

      Er zog den Türhebel, doch die Tür klemmte und ließ sich nicht öffnen. Normal für so ein altes Auto. Er drückte fester. Nichts. Sie bewegte sich keinen Spalt weit. Er versuchte es mit der Beifahrertür. Das Gleiche. Wie zugeschweißt. Ebenso die hinteren Türen. Aber wie konnte das sein? Unmöglich, dass sie alle gleichzeitig klemmten.

      Dumpf drang von draußen ein leises Kichern zu ihm herein und im nächsten Moment erhoben sich Heidi und Gianna und grinsten durch das Seitenfenster. Gianna ließ eine Rolle Klebeband vor seinem Gesicht schaukeln.

      »Zentralverriegelung«, kicherte sie.

      »Das ist Freiheitsberaubung, lasst mich auf der Stelle raus«, schrie Flo.

      »Würden wir ja, aber das Klebeband geht nicht