Kai Pannen

Die magische Schwelle


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wie wir dich aus deinem Gefängnis befreien könnten!«, rief Gianna.

      »Aber ich weiß nicht, ob du das überhaupt willst. Denn dann gibts ’ne hübsche Abreibung«, sagte Heidi. »Komm, Gianna, lass uns ein Eis essen gehen.« Die beiden verschwanden lachend um die Ecke des Hauses.

      Flo saß da und platzte fast vor Wut. Die konnten was erleben, wenn er erst wieder raus war. Aber das Klebeband wirkte wie ein Stahlkorsett. Wenn sein Vater das sehen würde, wie sie seinen Oldtimer verschandelten! Er krabbelte zum Heckfenster und hielt Ausschau nach den beiden. Nichts. Die wollten ihn hier wirklich verhungern lassen. Wütend boxte er gegen die Rückenlehne. Die Rückenlehne, natürlich! Die war doch schon seit Ewigkeiten nicht fest montiert. Ein paarmal hin und her gerüttelt und tatsächlich, sie ließ sich auf die Rückbank klappen. Vor ihm tat sich der riesige Kofferraum des Chevrolets auf, wie eine geheimnisvolle Höhle. Wenn er jetzt von innen die Kofferraumhaube aufdrücken konnte, war er frei. Er krabbelte in den dunklen Hohlraum, drückte gegen die Kofferraumhaube und …

      »Ha! Damit habt ihr blöden Gänse nicht gerechnet«, jubelte Flo, als sich die schwere Klappe quietschend einen kleinen Spalt weit öffnete. Um seinen geheimen Notausgang nicht zu verraten, wuchtete er die schwere Rückenlehne von innen wieder hoch. Dann holte er Schwung, um die Kofferraumklappe ganz zu öffnen. Doch als er ins Freie blickte, traute er seinen Augen nicht. Was war das für eine merkwürdige Welt um ihn herum? Auf jeden Fall nicht die Auffahrt zum Carport.

      »Wir sollten ihn langsam wieder freilassen«, sagte Heidi.

      »Wieso? Er ist doch gerade mal fünf Minuten da drin. Ich finde, er kann ruhig noch ein bisschen schmoren«, meinte Gianna.

      »Na gut, aber nur noch ein paar Minuten«, sagte Heidi.

      Kurz darauf trieb sie das schlechte Gewissen zurück zum Chevrolet. Leise schlichen sie sich an, um das Klebeband unbemerkt wieder abzuziehen. Dann wollten sie so tun, als wüssten sie von nichts und Flo für verrückt erklären. Sie hatten damit gerechnet, Flo vor Wut toben zu hören. Doch von drinnen kam kein Mucks.

      »Mein Brüderchen ist doch nicht etwa eingeschlafen?« Heidi warf einen kurzen Blick ins Innere.

      »Und? Was macht er?«, fragte Gianna.

      »Ich seh ihn nicht. Er hat sich bestimmt versteckt.« Doch auch bei genauerem Hinsehen war keine Spur von Flo zu entdecken. »Er muss aber da drin sein. Wie sollte er denn rausgekommen sein?«, fragte Heidi.

      »Vielleicht durch ein Fenster?«

      »Kann nicht sein, die gehen nur elektrisch«, antwortete Heidi. »Flo, genug Verstecken gespielt. Das ist jetzt nicht mehr lustig. Kannst rauskommen, wir tun dir auch nichts!«

      »Es ist doch alles noch original zugeklebt«, überlegte Gianna laut. »Steckt er vielleicht im Kofferraum?«

      »Wie soll er denn da reingekommen sein?«

      »Keine Ahnung, aber Nachschauen kostet ja nichts«, meinte Gianna und ging hinter den Wagen.

      »Geht ganz schön schwer auf«, stöhnte sie und stemmte die quietschende Haube hoch. Doch bis auf ein paar Werkzeuge und eine Packung Schrauben entdeckten sie nichts.

      Wie versteinert kauerte Flo im Kofferraum. Träumte er? Sein Elternhaus, der Carport und die Einfahrt, einfach alles in der Umgebung war verschwunden. Heidi und Gianna konnten den schweren Wagen unmöglich woanders hingeschoben haben, während er kurz im Dunkeln des Kofferraums verschwunden war. Irgendwie sah die Welt da draußen ein bisschen zu bunt und künstlich aus und dennoch war ihm die Umgebung vertraut.

      Zumindest erblickte er die Hochbrücke, nur dass sie um Hunderte Meter weggerückt war. Und wieso ragten in der Ferne Berge auf? Die gab es in Norddeutschland doch gar nicht! Das passte alles nicht richtig zusammen. Ein Hubschrauber landete auf dem Dach eines Krankenhauses. Ein Feuerwehrauto brauste mit Blaulicht seinem Einsatzort entgegen, eine Blaskapelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite spielte unbeirrt weiter. Und direkt vor ihm glotzten ihn ein paar Kühe ausdruckslos an.

      All das verwirrte ihn so sehr, dass er erst jetzt den Mann bemerkte, der wild mit den Armen fuchtelte und direkt auf ihn zukam.

      »Hey, du da! Ja, du, im Kofferraum. Was machst du hier auf meiner Wiese? Das ist doch kein Parkplatz. Ich stell meinen Trecker ja wohl auch nicht einfach in eurem Vorgarten ab.«

      Mit seinem seltsam groben Gesicht sah der Mann, anscheinend ein Bauer, alles andere als freundlich aus. Wie eine Muschel bei Gefahr ihre Schalen zuklappt, zog Flo schnell die Kofferraumklappe zu. Dann stemmte er sich mit aller Kraft gegen die Rückenlehne und plumpste direkt zurück in den Fußraum des Chevrolets.

      Heidi und Gianna waren ratlos und mittlerweile auch ziemlich besorgt. Sie hatten sich auf die Terrasse in den Schatten verzogen und rätselten über Flos plötzliches Verschwinden.

      »Ich kapier das nicht! Der kann sich doch nicht einfach so in Luft auflösen«, rätselte Heidi.

      »Und wenn ein wildes Tier im Wagen war, das ihn einfach aufgefressen hat?«, überlegte Gianna laut.

      »Kann nicht sein. Dann wär doch alles voller Blut gewesen.«

      »Oder hat dein Bruder vielleicht magische Kräfte?«

      »Eher nicht. Einmal hat er einen Zauberkasten zum Geburtstag bekommen. War aber nichts von Zauberkräften zu spüren.«

      »Und wenn ihn jemand entführt hat?«

      »Dann wäre doch wohl das Klebeband aufgerissen.«

      »Von Außerirdischen mit einem Energiestrahl herausgebeamt …?«

      »Ich glaube, jetzt geht dir ein bisschen die Fantasie durch. Warum sollten sich Außerirdische ausgerechnet Flo aussuchen?«

      In Flos Kopf schwirrten Tausende Fragezeichen. Durch die Fenster des Chevrolets erblickte er zum Glück den vertrauten Carport. Doch was hatte es mit diesem unheimlichen Wagen auf sich, in dem er jahrelang arglos gespielt hatte? Er musste raus, sofort! Was, wenn plötzlich die Rückbank umkippte und der Bauer aus dem Kofferraum stürzte?

      Oder war er vielleicht nur eingeschlafen und in einem absurden Traum gelandet? Sicherheitshalber kniff er sich in den Arm. ›Eigentlich blödsinnig‹, dachte er. ›Kann man sich nicht auch im Traum in den Arm kneifen?‹

      Von Heidi und Gianna war nichts zu sehen. Die waren also wirklich Eis essen gegangen und ließen ihn allein im Wagen schmoren. Dann musste er sich irgendwie selbst befreien. So stabil konnte dieses verflixte Klebeband doch nicht sein. Also zog er die Türverriegelung, warf sich so fest er konnte gegen die Tür und landete kopfüber in der Einfahrt.

      Heidi und Gianna schreckten auf, als sie das laute Scheppern und Quietschen der Autotür hörten.

      »Flo, da bist du ja wieder!«, rief Heidi. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. »Wo warst du denn? Du kannst dich doch nicht einfach so in Luft auflösen! Wir haben uns total Sorgen gemacht.«

      Flo war erleichtert, seine Schwester und Gianna wiederzusehen. Und er fühlte Genugtuung, ihnen so einen Schrecken eingejagt zu haben. Das hatten sie jetzt davon, das war ihre gerechte Strafe! Aber wo er gewesen war, konnte er weder sich noch den beiden erklären.

      »Habt ihr mich etwa nicht gesehen?«, fragte er und versuchte, so normal wie möglich zu wirken. »Wie blind seid ihr denn?«

      »Jetzt sag schon«, schnaubte Heidi, »wo hast du dich versteckt?«

      »Ich war die ganze Zeit da drin. Wo soll ich denn sonst gewesen sein?«, antwortete Flo und ging ins Haus, als wäre nichts geschehen.

      Doch sobald er außer Sichtweite war, rannte er geradewegs hoch in die Kleine Freiheit. Obwohl er so gut wie jedes Detail auf der Anlage kannte, musste er sich noch mal vergewissern. Es passte alles zusammen. Es war genau das, was er durch die Kofferraumklappe gesehen hatte. Da war die Hochbrücke, der Hubschrauber auf dem Dach des Krankenhauses, die Feuerwehr, die Blaskapelle. Die sanft hügelige Eisenbahnlandschaft, die stark an die Landschaft um Rendsburg herum erinnerte.