Kai Pannen

Die magische Schwelle


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fiel sein Blick auf den kleinen Chevi, mit dem er vorhin auf der Modellanlage gespielt hatte. Immer noch stand er mitten auf einer Kuhweide. Und davon völlig unbeeindruckt, melkte ein Bauer neben dem Auto seine Kühe.

      Flo schüttelte mit dem Kopf. Entweder hatte er geträumt oder er war auf bestem Wege, komplett verrückt zu werden!

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       ZU VIEL FANTASIE

      »Flohooo, Schnurzelchen. Aufwachen.«

      Flo war noch hundemüde. Er hatte wirr geträumt und schlecht geschlafen.

      »Mama, nenn mich nicht so«, knurrte er.

      »Wenn du jetzt nicht aufstehst, kommst du zu spät in die Schule, mein Schnurzelchen.«

      Tanjas Taktik funktionierte. Nach dem zweiten »Schnurzelchen« war Flo wach. Er hasste es, wenn sie ihn so nannte. Verschlafen sackte er am Küchentresen auf seinen Stuhl und trank ein Glas Milch in einem Zug aus.

      »So schnell trinken ist ungesund, lass dir das von einer erfahrenen Ärztin gesagt sein«, erklärte ihm seine Mutter.

      »Ich hab totalen Durst«, erklärte Flo.

      »Milch ist aber nicht zum Durstlöschen. Milch ist ein Nahrungsmittel. Ursprünglich mal für Kälber gedacht, damit die groß und stark werden«, dozierte Tanja.

      »Eines Tages wirst du anfangen zu muhen, bei so viel Milch, wie du in dich hineinschüttest«, bemerkte Heidi.

      »Dann sprechen wir endlich die gleiche Sprache«, murmelte er und starrte gedankenversunken in sein leeres Glas.

      »Träumst du schon wieder? Schmier dein Pausenbrot, du musst gleich los!«, ermahnte ihn seine Mutter.

      »Stellt euch mal vor, wir wären alle miniklein. Wie viele Menschen von so einem Glas trinken könnten. Eine Kuh würde für ganz Rendsburg ausreichen.«

      »Dann möchte ich aber mal wissen, wie deine Minimenschen so eine Kuh melken wollten. Die kämen ja nicht mal an das Euter ran«, bemerkte Heidi.

      »Man könnte bestimmt eine Maschine bauen, die das erledigt. Mit einer Herde Kühe könnte man dann die ganze Menschheit versorgen.«

      »Bevor du jetzt Melkmaschinen für gigantische Kühe erfindest, mach dir lieber dein Pausenbrot.«

      Lustlos strich Flo Butter auf eine Scheibe. »Und damit könnte man alle Schüler der Welt durchfüttern«, überlegte er laut und versank wieder in seinen Gedanken.

      »Nicht einschlafen, schmieren«, drängelte Tanja.

      »Kannst du das nicht machen?«

      »Flo, du bist kein kleines Kind mehr.«

      »Sag ich doch! Wenn das so ist, will ich auch ein Handy haben, wie Heidi.«

      »Und wovon träumst du nachts? Ich habe meins auch erst mit 13 gekriegt«, belehrte ihn seine Schwester.

      »Misch du dich da nicht ein«, zischte Flo.

      »Du bist erst zwölf!«

      »Zwölfeinhalb!«

      »Streitet euch nicht schon am frühen Morgen. Ich muss los in die Praxis«, sagte ihre Mutter. »Habt ihr eure Hausaufgaben fertig?«

      »Klar, Mama«, stöhnten Heidi und Flo im Chor.

      »Also dann, bis heute Abend. Und Flo, mach was Gesundes auf dein Pausenbrot.«

      »Geht klar, Mama«, stöhnte Flo erneut und tauchte sein Messer in das Glas mit Schokocreme.

      »Wow, wahnsinnig gesund«, kommentierte Heidi.

      »Ein Meer aus brauner Schokolade, auf dessen Wogen auch die stolzesten Schiffe wie kleine Nussschalen schaukeln …«, sagte Flo und meinte die Schokocreme auf seinem Brot.

      »Geht das schon wieder los mit deinen komischen Fantasien? Eines Tages wirst du noch darin hängen bleiben.«

      Womöglich hatte sie damit sogar recht! War er nicht gestern in seine eigenen Fantasien geraten? Hatte er nicht das zu sehen geglaubt, was er zuvor auf der Eisenbahnanlage gespielt hatte?

      Bevor er zur Schule fuhr, rannte er in die Kleine Freiheit, da er nicht mehr genau wusste, ob er den Chevi zurück ins Regal gestellt hatte.

      Unverändert stand der auf der Viehweide neben dem Bauern. Immer noch melkte der seine Kühe. Nichts hatte sich seit gestern verändert. Wie auch? Es waren schließlich alles unbelebte Plastikfiguren. Vielleicht wäre es besser, erst einmal einen großen Bogen um die Anlage zu machen, bis Flo wieder etwas Abstand zu seinen Fantasiewelten gewonnen hätte. Er stellte den kleinen Chevi zurück ins Regal und machte sich auf den Weg zur Schule.

      Flo war kein besonders guter Schüler. Im Unterricht träumte er oft, krickelte herum und beteiligte sich kaum. Außerdem war es ihm unangenehm, vor vielen Leuten zu sprechen, und meist wurde er dabei sofort rot im Gesicht. Was die Sache noch unangenehmer machte und seinen Kopf sogar noch röter …

      Deutsch war sein Lieblingsfach, am wenigsten mochte er Sport. Er fühlte sich klein und schmächtig neben seinen athletischen Klassenkameraden, die ihn höchstens müde belächelten oder die Augen verdrehten, wenn er beim Fußball mal wieder ins Leere trat. Er war erleichtert, diesen wöchentlichen Termin in den ersten beiden Schulstunden hinter sich gebracht zu haben, zumal Fußball so gar nicht sein Ding war. Abgesehen von Tischfußball, doch den gab es leider nicht im Sportunterricht.

      »Gullivers Reisen! Ich hoffe, ihr habt alle die ersten Seiten gelesen«, begann Frau Denkhaus, Flos Deutschlehrerin, mit ihrer etwas zu schrillen Stimme den Unterricht. »Worum geht es in dieser Geschichte? Boris, was meinst du?«

      Boris war eine der Sportskanonen und gehörte zur Gruppe der coolen Jungs in der Klasse. Flo hingegen war Vorsitzender im Club der Außenseiter, der nur ein einziges festes Mitglied hatte, nämlich ihn selbst.

      »Also? Worum geht es?«, wiederholte Frau Denkhaus.

      Boris legte ein charmantes Lächeln auf und sagte voller Überzeugung: »Um einen bösen Riesen, der eine Insel überfällt und dort gegen die Menschen kämpft.«

      Die Klasse kicherte über diese etwas eigenwillige Zusammenfassung. Offensichtlich hatte Boris den Text nicht besonders aufmerksam gelesen, wenn überhaupt.

      Frau Denkhaus seufzte. Dann blickte sie auf Flo, der gerade kleine Männchen in sein Heft malte. »Florian, was denkst du? Ist Gulliver ein Riese?«

      Flo schreckte von seinem Heft auf und sofort schoss ihm das Blut in den Kopf. »Ja … ähm … also, nein. Dieser Gulliver ist überhaupt kein Riese. Der ist ein Seemann, dessen Segelschiff bei einem Sturm untergeht. Er rettet sich auf eine unbekannte Insel, auf der nur kleine Menschen leben. Vielleicht gerade mal um die 15 Zentimeter groß.« Flo warf einen schnellen Blick hinüber zu Boris, der ihn grimmig ansah. »Der ist ein ganz normal großer Mensch und nur für diese kleinen Leute wirkt er so riesig. Ist ja auch eigentlich nur eine Frage des Standpunkts, was groß oder klein ist.«

      »Genau die richtige Insel für Flo. Dann wäre er endlich einmal der Größte«, raunte jemand aus Boris’ Richtung. Laut genug, dass alle es hören konnten.

      »Sehr witzig«, krächzte Frau Denkhaus. »Wahre Größe lässt sich nicht in Zentimetern messen.« Immerhin war sie selbst eine sehr kleine Person und hatte in ihrer Schulzeit sicher viele Bemerkungen darüber ertragen müssen. »Sehr gut, Flo. Und was glaubt ihr, ist das eine realistische Geschichte?«

      »Nee, bestimmt nicht. So kleine Menschen gibt es in Wirklichkeit gar nicht«, meinte Melanie.

      ›Oder wir haben sie einfach noch nicht entdeckt und es gibt sie doch‹, dachte Flo. ›Oder vielleicht bildet sich Gulliver das alles