Widerstandes des ausgehenden 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts verstehen will, wird nicht umhinkommen, sich mit der Ausrottungs- und Vernichtungspolitik der europäischen Eroberer und Einwanderer gegen die Ureinwohner Amerikas auseinanderzusetzen. Einerseits bleiben ansonsten Gedanken, Intentionen und Aktionen indigenen Widerstands für uns nur schwer verständlich und auch sperrig bezüglich einer interpretatorischen Einvernahme anhand revolutionär-emanzipatorischer Kriterien unseres „europäischen Denkens“ – selbst wenn dies solidarisch gemeint sein sollte.2
Andererseits bleiben die Dimensionen dieses Völkermordes samt seiner Begleiterscheinungen im wahrsten Sinne des Wortes „unvorstellbar“, wenn nicht doch in einem Kapitel einige Aspekte in aller Kürze benannt und beleuchtet werden.
„Indian Wars Aren´t Over“, so lautet die Überschrift eines Solidaritätsplakats für den indianischen politischen Gefangenen Leonard Peltier.3
Kleingedruckt am Rand stehen die Namen von ca. 60 Opfern tödlicher Angriffe auf traditionelle Lakota und AIM-Sympathisanten bzw. -Aktivisten, die vor allen in den Jahren zwischen 1973 und 1976 in der Pine Ridge Reservation stattfanden. Damit soll auf die Kontinuität des Tötens nordamerikanischer Indianer seit den sogenannten „Indianerkriegen“ in der Zeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert hingewiesen werden. Wer sich jedoch mit der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner seit der „Entdeckung“ durch Christoph Columbus 1492 befasst, wird den zahlreichen Autoren indianischer, aber auch nicht-indianischer Herkunft zustimmen müssen, dass es sich bei der Bekämpfung der Indianer um den wohl längsten, anhaltenden Völkermord der Geschichte handelt. Dabei verbinden sich über die Jahrhunderte Aspekte von Genozid (Völkermord), Ethnozid (Kulturzerstörung) und Ökozid (irreversible Zerstörung intakter Ökosysteme) zu einer vielgesichtigen und vielschichtigen Geschichte von Ausrottung und Unterdrückung.
Die Stationen dieser Geschichte reichen von der Vertreibung, Umsiedlung, militärischen Bekämpfung und Ausrottung indianischer Völker über deren Dezimierung durch Krankheiten und andere sogenannte „Zivilisationsfolgen“, den Entzug ihrer Lebensgrundlagen bis hin zur Zwangsumerziehung in Internatsschulen, Zwangssterilisation indianischer Frauen und nuklearen Kontaminierung ganzer Regionen. Was an dieser Stelle über das Schicksal der nordamerikanischen Indianer ausgeführt wird, kann mit etwas veränderter Beschreibung auch für das Sterben, Leben und Überleben der Indigenen in Mittel- und Südamerika ausgeführt werden.
Auf all das, was an Entwicklungen in der sogenannten Paläo-Indianischen Periode Nordamerikas und in der Zeit von 7.000 v. Chr. (sogenannte archaische Periode) bis zum 15. Jahrhundert (im Südwesten die sogenannte Pithouse-Pueblo-Periode) stattfand, soll hier nicht näher eingegangen werden. Nur so viel sei gesagt: dass im Südwesten Nordamerikas die ersten nennenswerten Besiedlungen bereits zwischen 12.000 und 10.000 v. Chr. erfolgten. Zwischen 7.000 v. Chr. und der Zeitenwende entwickelten sich Ackerbau und Siedlungen, beides prägte die Lebensweise der indianischen Völker des Südwestens. Keramikherstellung, Baumwollnutzung und Webtechnik kamen in dieser Region zwischen 700 und 1.000 n. Chr. hinzu. Und Charles C. Mann wies in seinem Buch „Amerika vor Kolumbus“ darauf hin, dass im Gegensatz zu unseren Klischeevorstellungen von den Indianern als nomadische, ökologische Ureinwohner tatsächlich sich zur Zeit von Kolumbus die große Mehrheit der alteingesessenen Indigenen südlich des Rio Grande aufhielten. „Sie waren keine Nomaden, sondern erbauten und bevölkerten einige der größten und reichsten Städte der Welt……,lebten …auf Farmen…,ernährten sich von Fisch und Schalentieren…..Mit anderen Worten, Amerika war unermesslich geschäftiger, mannigfaltiger und dichter bevölkert, als es sich die Forscher vorgestellt hatten. Und älter war es auch.“4
Unterschiedliche Studien gehen davon aus, dass in der vorkolumbianischen Zeit, also noch im 15. Jahrhundert, an die 800 unterschiedliche Stämme im Gebiet der heutigen USA lebten, heute sind dies noch etwa 300. Dabei unterschieden sich Lebensformen, Lebensräume und Kulturen oftmals nicht unerheblich zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit, zwischen Pflanzenanbau, Fischerei und Jagd, zwischen dem Leben an Küsten, in Wäldern, Gebirgen, Wüsten oder in den Weiten der Plains und Prärien.
Diesen unterschiedlichen indianischen Völkern standen seinerzeit, berücksichtigt man mal lediglich die Fläche der heutigen USA, knapp zehn Mio. Quadratkilometer zur Verfügung.5 1887, nach der Umsiedlung der Indianer in Reservationen und nach dem Invasionsende des Westens durch die weißen Siedler, waren dies in den USA 558.472 km2 (knapp 5 %), 1900 ca. 300.000 km2 und gegen Ende des 20. Jahrhunderts gar nur noch 215.549 km2 (ca. 2,3 %) der Gesamtfläche der USA.
In dieser Zeit nahm die Anzahl der nördlich des heutigen Mexiko lebenden Indianer drastisch von acht bis zehn Millionen auf nur noch 360.000 (1892) ab. Und wenn wir heute wieder von ca. 2,5 Mio. indianischen und indianisch-stämmigen Amerikanern in den USA reden, dann meint dies Menschen indianischer Herkunft, Fullbloods (Vollblut) und Mixedbloods (also teilweise indianischer Abstammung), Reservationsbewohner, indianische Wanderarbeiter und Stadtindianer. Sicherlich waren nicht all die 7,5 - 9,5 Mio. gestorbenen Indianer Opfer militärischer Aktionen und Vertreibungen durch die Europäer. Viele von ihnen starben mittel- oder unmittelbar an den unterschiedlichsten Folgen der Invasion aus Europa.
Ein oftmals vernachlässigter Aspekt ist dabei, dass Kriege zwischen indianischen Völkern aufgrund deren Einbeziehung in kriegerische Konflikte zwischen den weißen Eroberern (Kriege zwischen Engländern und Franzosen, Spaniern und Engländern, Unabhängigkeitskrieg), durch die Einführung neuer Waffen und von Pferden, aber auch aufgrund der territorialen Vertreibungen vom Osten immer tiefer in den Mittleren Westen und Westen ebenfalls zunahmen. Vor allem Krankheiten, Hunger und Alkohol waren im großen Maße für das Massensterben bei den Indianern verantwortlich und waren erheblich mörderischer als die Gewehre der Eroberer. „Den Indianern fehlten die Abwehrkräfte gegen Malaria, Masern, Tuberkulose und Pocken. Ganze Dörfer wurden oft in wenigen Wochen dahingerafft; die Überlebenden waren zum Widerstand zu schwach. Bereits vor der Gründung der USA ging die indigene Bevölkerung Nordamerikas … um knapp 80 % zurück.“6
Kaum verwunderlich, dass so auch Pläne entstanden, alle Indianer über die Verteilung infizierter Decken und Bekleidung mit Masern zu infizieren, denn im 18. und 19. Jahrhundert galten sie den einwandernden Europäern und nach Gründung der USA auch den neuen Machthabern Nordamerikas als eine Art „menschliches Ungeziefer“, das es zu dezimieren galt.7 So schrieb der britische General Jeffrey Amherst bereits 1752: „Sie täten gut daran, die Indianer mit Laken zu infizieren, auf denen Blatternkranke lagen, oder sich aller sonstigen Mittel zu bedienen, die dazu beitragen können, diese verfluchte Rasse auszurotten.“8
Mit der Besiedlung Nordamerikas durch die Spanier im 16. Jahrhundert und durch die Engländer und Franzosen (und im geringeren Ausmaß auch durch die Niederländer) ab dem 17. Jahrhundert ging nach der Anfangsphase einer freundlichen Aufnahme durch die Indianer der Ostküstenregion und, zumindest bei den Engländern und Franzosen, auch nach anfänglich friedlicher Koexistenz die Vertreibung der Urbevölkerung bei gleichzeitiger Annexion des Landes einher.
Im Zuge der spanischen Besatzung wurden die hochentwickelten Städte und Kulturen der Indigenen zerstört. Nuñez Cabeza de Vaca, der tausende von Meilen durch Mexiko zurücklegte, berichtete bei seiner Ankunft im heutigen Mexico City von ummauerten Städten mit mehrgeschossigen Häusern und Indianern, die in ihrem Verhalten weit kultivierter als die Spanier seien.9 Trotzdem wurde die indianische Bevölkerung im großen Stile versklavt oder massakriert. Alleine auf den Inseln des heutigen Haiti und der Dominikanischen Republik lebten 50 Jahre nach der Landung von Kolumbus nur noch 10 % der dortigen indianischen Bevölkerung.
In den von Engländern besiedelten Ostküstengebieten des heutigen Virginia (ab 1607) und Massachusetts (1620) begann die Vertreibungspolitik erheblich subtiler. Den ersten Winter nach ihrer Ankunft überlebten die Engländer nur mit Hilfe der lokalen Stämme der Powhatan, Massachusetts und Wampanoag, die den Engländern Lebensmittel und Feuerholz brachten und diesen zeigten, wo sie Fisch fangen und wie sie Mais pflanzen konnten. Um sich die Gunst der Indianer so lange zu sichern, bis die Engländer über befestigte und sichere Ansiedlungen verfügten, krönten die englischen Siedler gar einen der Häuptlinge zum König, dessen Tochter, Pocahontas, später von einem Briten geheiratet wurde.
Nach