Astrid Habiba Kreszmeier

Natur-Dialoge


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mehr zu beschreiben denn zu erklären, mehr zu umkreisen denn zu begraden, aber auch immer wieder zu betonen, was mein Standpunkt ist und mit welchen Fäden er verknüpft sein kann.

      Einen gebührlichen Abstand zu den Lesenden zu wahren, war mir dennoch wichtig. Nicht zuletzt deshalb, weil es selbst bei guten Freund:innen ratsam ist, abzuklären, ob der Gebrauch und die Verständnisräume von zentralen Wörtern sinnvolle Überschneidungen schaffen und befruchtende Dialoge ermöglichen.

      Ein solch zentrales Wort findet sich hier sogar im Titel, und ich gestehe, es ist ein kompliziertes Wort: die Natur. Selbst wenn es auf den folgenden Seiten selten vorkommt, so klingt es doch durch den gesamten Ansatz. Daher will ich vorweg ein wenig zusammentragen, was mit dem Begriff Natur alles gemeint sein kann.

      Natur ist für viele alles, was nicht menschengemacht ist und sein eigenes Leben, seine eigene Rhythmik hat.

      Andere sagen möglicherweise: »Ja, aber Moment, auch der Mensch ist Natur, folglich ist alles, was er tut und macht, auch natürlich.«

      Andere gehen noch weiter und finden, dass diese Natur-Mensch-Einheit einem größeren geistigen Plan folgt, an dessen Spitze der Mensch eingesetzt ist.

      »Weit gefehlt!«, denken die nächsten. Die Natur sei so etwas wie die natürliche Feindin des Menschen, gegen die er sich durch ihre Beherrschung zur Wehr setzen muss.

      Dann gibt es jedoch solche, für die ist Natur einfach heilig, vielleicht von vielen Gött:innen oder von einem Gott bewohnt. Sie finden, diese Heiligkeit muss geehrt, allenfalls geschützt oder gefeiert werden.

      Unglaublich, aber wahr ist, dass es auch (noch) solche gibt, die das Wort Natur gar nicht kennen! Es gibt tatsächlich Völker, in deren Sprache Natur nicht vorkommt. Sie kennen Berge, Bäume, Flüsse, Pflanzen per Namen; sie wissen, wo sie sind, was sie tun, wer ihre Nachbarn sind und allenfalls sogar, wie man mit ihnen in Kontakt kommen kann oder umgeht. Aber Natur als Ganzes kennen sie nicht, wozu auch all das in einen Begriff packen? Sie wollen sich das alles ja nicht vom Leibe halten oder es gar vergessen, was bei Überbegriffen oder Großwörtern, wie ich sie nenne, oft geschieht.

      Daneben gibt es auch jene Stimmen, für die Natur zu einem Unwort geworden ist. Politisch zutiefst unkorrekt, weil es in sich die Geschichte der naturalistischen, kolonialistischen Unterdrückung enthält und festhält, wie sie meinen.

      Ich kenne auch solche, für die ist Natur einfach eine unter mehreren relevanten Um-Welten menschlicher Gesellschaften. Es ist jener Teil, der zu den Naturwissenschaften zählt und sich vom Geist der Geisteswissenschaften unterscheidet. Uff.

      Und viele wissen von all dem nichts oder zumindest nicht so und finden Natur einfach schön. Sie freuen sich, wenn sie ins Grüne schauen oder sich draußen aufhalten können, darüber, wenn sie einem Schmetterling oder einer Blume begegnen, wilde Brombeeren vom Strauch essen oder Mangos – je nachdem, wo sie sich aufhalten.

      Mhm.

      Wir sehen: Natur ist ein komplexes Wort.

      Ich würde mich wohl gerne zu den Zuletztgenannten zählen, aber so unschuldig kann ich mich nach vielen Jahren psychologischer Arbeit in und mit der Natur nicht präsentieren und schon gar nicht, wenn ich trotz aller Bedenken dieses Wort in den Titel nehme und in Umlauf bringe.

      Bekanntlich können wir niemandem vorschreiben, wie er oder sie etwas versteht – glücklicherweise, möchte ich hinzufügen.

      Was ich jedoch hoffe: dass mit dem, was auf den kommenden Seiten geschrieben ist, auch der Begriff Natur sich dreht und wendet, dass er sich verschiedentlich erhitzt und mit Sinn und Geschichten befüllt, dass er sich verwurzelt, verflüssigt, belüftet und dass er im Leben und in den Praxisfeldern aller, die ihn für wichtig halten, einen guten Platz einnehmen kann.

       Astrid Habiba Kreszmeier

       Altstätten, im Frühjahr 2021

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       1In Zeiten fortschreitender Erddemenz 1

       »Es könnte immerhin sein, dass es für erdgebundene Wesen, die handeln als seien sie im Weltall beheimatet, auf immer unmöglich ist, die Dinge, die sie solcherweise tun, auch zu verstehen.«

      Hannah Arendt, Vita Activa, S. 10

      Wo sind wir gelandet?

      Regnet es?

      Nach vielen sonnigen Tagen regnet es.

      Das mag ein etwas seltsamer Beginn für eine Art Fachbuch sein, dennoch ist er genau richtig. Weil es eben von großer Bedeutung ist, dass es regnet. Früher kamen mir eher abfällige Gedanken, wenn andere übers Wetter redeten. Sie sollten doch mit dem Small Talk aufhören und über etwas Wichtigeres sprechen. Über das, was sie wirklich beschäftigt, was ihnen wirklich wichtig ist. Und bestimmt habe ich mich auch über mich geärgert, wenn mir nichts Besseres eingefallen ist, als zu sagen: Regnet es bei euch auch? Sich über das, was uns umgibt, also unter anderem und ganz wesentlich das Wetter, auszutauschen, war nahezu ein intellektuelles Armutszeichen.

      Das sehe ich heute nicht mehr so. Im Gegenteil, ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir wieder mehr wahrnehmen, ernst nehmen und mitteilen, was für Witterungen wir gerade erleben. Welche ganz sinnlich wahrnehmbaren Atmosphären, welche elementaren Qualitäten mit uns sind. Es scheint mir für unsere körperliche, psychische und soziale Gesundheit – oder anders, für unser gedeihliches Zusammenleben hier auf Erden – wesentlich, dass wir nicht nur über unsere smarte Wetter-App, sondern auch hautnah bemerken, dass es draußen heiß, nass, trocken, windig, nebelig, sonnig ist. Wetter ist wesentlich, nicht nur, aber auch für Menschen.

      Wo bist du?

      Nach vielen sonnigen Tagen regnet es. Ich sitze im Dachzimmer eines Hauses in den Südhängen des ostschweizerischen Rheintales. Der bräunlich-graue Wolkenhimmel und ziehende Nebel lassen mich zwar die Ebene sehen, die der Rhein dereinst mäandernd mitgestaltet hat, jedoch die prächtigen Bergketten auf der anderen Seite bleiben gerade verhüllt. Das macht gar nichts. Weil ich weiß, dass es sie gibt. So oft haben sie sich mir gezeigt (und ich mich ihnen), dass ihre Gegenwart in meinem räumlichen Empfinden lebendig ist. Sie halten den Raum und mich in ihm, so scheint es mir, so fühle ich es. Und ich bin ihnen so dankbar. Dankbar bin ich auch diesen Hügeln und Hängen, den Nasen und Kuppen, ganz besonders den sieben Birken, dem Holunder und der großen, alten Linde am Hang vor unserem Fenster. Ich will es jetzt zu Beginn nicht übertreiben mit meinen Liebesbekundungen an diese Landschaft, mit der ich lebe, das würde kein Ende nehmen. Ich würde dann ja auch von den menschlichen Nachbarn erzählen müssen, den Bauern und Bäuerinnen, den Handwerkern und Kassiererinnen, den Physiotherapeuten und Versicherungsmaklern. Aber auch damit wäre es nicht getan, ich müsste nämlich auch den Straßen, die hier im Hang angelegt sind, danken, und unserem Auto und dem Fahrrad und dem schicken Airbook und meinem schier unverwüstlichen Telefon und den vielen Dingen, die mit mir leben. Keine Sorge, soweit wird es nicht kommen, und dennoch ist mir wichtig hier einzubringen, dass ich mich als Schreibende an einem Ort befinde. An einem ganz wirklichen Ort, in einer geografischen, biologischen und freilich auch kulturellen Situation. Dieser Ort mitsamt seinen wilden Welten und menschengemachten