Astrid Habiba Kreszmeier

Natur-Dialoge


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folgenden Überlegungen und Geschichten möchten unter anderem daran erinnern, dass wir Menschen Teil einer Welt sind, die lebt und pulsiert. Dass es einen Unterschied macht, ob wir und unsere menschlichen Mit-Lebenden nicht nur wahrnehmen, dass es uns gibt, sondern auch wo es uns gibt. Vor allem auch wie wir mit diesem Wo in Beziehung sind und mit ihm kommunizieren. Der Regen trommelt kräftig auf die Dachfenster, schön.

      Was spricht dich an?

      Ich sitze im Dachzimmer eines Hauses in den Südhängen des ostschweizerischen Rheintales. Dort unten in der Ebene, wo heute Rietflächen, Wiesen und fruchtbares Ackerland, kleine städtische Siedlungen und Dörfer einander abwechseln und die der Rhein in begradigter Linie durchzieht, dort war vor langer Zeit ein Gletscher, dann ein großer See, dann ein mäandernder Fluss.

      Funde in den Halbhöhlen an den Hängen deuten auf prähistorische Besiedelung hin und sollen gar bis zu 10.000 Jahre alt sein. Als geologische oder archäologische Information sagt mir das noch nicht viel. Allerdings geschieht es, dass mich aus der langen Zeitgeschichte des Raumes etwas anhaucht und zum Eintauchen einlädt. Es sind dann nicht Gefühle im eigentlichen Sinn, sondern eher Ahnungen, organismische Wahrnehmungen, ja körperliche Empfindungen, die mich an dieses Feuer in der Halbhöhle rufen. Gemeinsam mit den anderen sitze ich dann dort, den Älteren und Jüngeren, eingebettet in diese ungeheure Vielfalt der Wildnis rund um uns, ja vielleicht mit einem Blick auf den mäandernden Fluss, der uns so viel Nahrung beschert. Unsere Körper wissen sich zu bewegen, kräftig und sanft in diesen Felsen, Moosen, Wäldern, mit den Tieren und Pflanzen und unter uns. Hand in Hand bei der Jagd, am Feuer, bei den Gängen durchs Land, beim Sammeln und Graben. Hier werden Kinder geboren, hier sterben andere, manche jung, manche alt. Wir erzählen die Geschichten des Tages und wohl auch schon die Geschichten der Ahnen. Wir singen und tanzen.

      Solche Bilder kann mir diese Landschaft zurufen. Andere Landschaften erzählen andere Geschichten. Alle laden ein, zu erinnern.

      Was will sich erinnern?

      Jetzt regnet es nicht mehr. Das Zirpen der Grillen, Vogelstimmen, blökende Schafe und der rauschende Grundton des Windes in den Bäumen des angrenzenden Waldes füllen mein Dachzimmer. Wie alle Töne füllen sie auch mich auf ihre eigentümliche Weise. Es klingt friedlich miteinander. Das ist es oft auch, aber gewiss haben diese Hügel und Hänge nicht nur Frieden erlebt. In unmittelbarer Nähe ziehen Kantonsgrenzen, aber auch Staatsgrenzen durch das Gebiet. Hier wurde gerungen, gekämpft und gehandelt. Die Geschichte dieses Grenzraumes kann sich jederzeit auffalten, über irgendein zufälliges Zeichen. Gerade höre ich einen Schuss. Jagd? Schießübungen? Noch einen. Vielleicht wegen der Wildschweine, die hier durch die Wälder ziehen.

      Dort unten der Alpenrhein, dessen Mäandern vor gut 100 Jahren reguliert wurde. Er ist nicht nur Fluss, sondern auch fließende, politische Grenze zwischen der Schweiz und Österreich. Wie schnell jene offene, mehr verbindende als trennende Zone zu einer bedrohlichen, von Militär aktiv bewachten Mauer werden kann, haben die Corona-Maßnahmen im Frühjahr 2020 gezeigt. Bewegungen, die über Jahrzehnte selbstverständliche Gewohnheit waren, Freundschaften, soziales Leben, Familien, Liebesbeziehungen und alles, was nicht gerade notwendiger oder als solches angesehener Wirtschaftsverkehr war, wurden von einem Tag auf den anderen getrennt, unterbunden und verboten. An dieser Grenze war »Krieg«, der unsichtbare Feind allgegenwärtig und mit ihm die Erinnerungen und Geschichten der letzten Kriege. Ob in ihnen die Chancen der Befriedung genutzt werden können, oder ob der Schreck, die Angst und die Panik sich noch etwas tiefer eingraben werden?

      Wie antwortest du?

      All diese Ausflüge rund um meinen aktuellen Schreibort unternehme ich nicht aus erzählfreudiger Laune heraus, sondern weil alles zu systemisch-ökologischen Perspektiven gehört: genau genommen ja zum Leben an sich, zumindest zu einem situiert-leiblichen, sinnlich-wirklichen Leben. Das Wetter, die Geografie, die Landschaft, ihre Steine, Pflanzen und Tiere, die Luft und ihr Lied. Und natürlich die Menschen, ihre Geschichten und Kulturen und ihre Räume der Erinnerung.

      Das alles gehört dazu.

      Dieses Nachdenken und Erzählen lädt dazu ein, unseren irdischen Lebenskontext samt seinen biologischen und kulturellen Historien in unsere professionellen Begegnungen, Gespräche, Hypothesen, Reflexionen und Interaktionen aufzunehmen. Es geht darum, menschliche Angelegenheiten in ihrer systemischen Verortung als Erd-Mitbewohner:innen mitzudenken, mitzufühlen und in unsere Kommunikation einfließen zu lassen. Es geht darum, der fortschreitenden »Erddemenz«, die leider schon vor ein paar Jahrtausenden langsam ihren Anfang genommen hat und seit gut 200 Jahren exponentiell gestiegen ist, auch im Bereich von Bildung und Beratung ein paar Körper-Denkübungen oder auch Kopf-Herz-Hand-Wege entgegenzuhalten.

      Bekanntlich wird nichts von einem objektiven Niemand im relativen Nirgendwo geschrieben, auch wenn viele ganz geschickt sind darin, so zu tun als ob, oder vermutlich tatsächlich an solch objektive Standpunkte und ihre Wahrhaftigkeit glauben. Ich schreibe also nicht nur in einem spezifischen Orts-Raum, sondern auch in einer spezifischen kulturellen Zeit, und ich bin als in Sprache lebendes weibliches menschliches Wesen mit all dem im wechselseitigen Austausch und in bedingender Verwobenheit.

      Der kulturelle Moment, in dem dieser Text entstanden sein wird, ist geprägt von der oben kurz erwähnten Covid-19-Pandemie, deren Wellen, Nach- oder Nebenwellen hier im mitteleuropäischen Raum und in allen anderen Teilen der Welt gerade Wirklichkeiten gestalten. Corona »erschien« in einer Zeit, in der Klimaerwärmung, System-Change, from Ego to Eco, Kreislaufwirtschaftsmodelle aber auch konservative Nationalismen, Fremdenfeindlichkeit und potenziell totalitäre Populismen den gesellschaftlichen Diskurs prägten. Diese Gegenwärtigkeiten werden da und dort in den Fluss der Gedanken hineinschwappen. Auch wenn natur-dialogische Blickwinkel weder von der Pandemie noch von ihren Auswirkungen sonderlich überrascht sind, so gewinnen sie inmitten dessen doch an Dringlichkeit.

      Ist die Welt noch von Belang?

      Bist du bei Sinnen?

      Bislang war ich der Meinung, dass es primär wichtig sei, die verschüttete Beziehung zu den uns umgebenden Naturräumen und den Dingen im Allgemeinen zu thematisieren. Nach den letzten Monaten der digitalen Aufrüstung in Bildung und Psychotherapie scheint jedoch neben der Erddemenz eine weitere Krankheit um sich zu greifen: nämlich eine gehörige Ent-Körperung unseres sozialen menschlichen Daseins. Wir gewöhnen uns gerade daran, dass wirklich körperliche Begegnungen nicht nur potenziell gefährlich, sondern auch mehrheitlich unnötig sind. Zumindest in den wohlhabenden Ländern, die körperliche Notwendigkeiten an billige ausländische Arbeitskräfte delegieren und darüber hinaus über so viel Raum verfügen, dass Distanzgeschäfte funktionieren.

      So werden gerade Beratungs- und Therapie-Apps im großen Stil entwickelt. Viele Kollegen halten Online-Beratung für mindestens so wirkungsvoll wie Präsenz-Beratung, und selbst körperorientierte Verfahren wie die Aufstellungsarbeit scheinen mittels Splitscreen und Face-Tracing so gut zu funktionieren, dass nicht einmal Klienten und Stellvertreter im selben Raum sein müssen.2

      Es bahnt sich an: In Zukunft wird es mehr und mehr digitale Beratungen geben. Der selbstbestimmte Kunde oder Klient wird frei wählen, was für ihn gut ist. Das ist auch angemessen. Er (oder sie) wird sich vermutlich für eine Therapie-App entscheiden, die er sich zunächst gratis downloaden kann. Ab einer gewissen Bedarfskomplexität kann er ja jederzeit auf Standard Pro, Premium light oder gar Goldmaster aufstocken. Von seiner individualisierten, automatisierten Therapie-App wird er in klug berechneter Taktung Nachrichten erhalten. Sie werden ihn glücklicher machen, auf andere Ideen bringen, und sie werden Möglichkeiten erweitern! Mit jeder Interaktion wird der Computer mehr lernen, und da er ohnedies »mitschaut«, wo sich der Klient den ganzen Tag virtuell und analog bewegt, können die Nachrichten immer gezielter, gewitzter und klüger werden. Und ich bin überzeugt, dass mit dieser Technik auch viel Schlimmes verhindert werden kann. Kein Witz.

      Nun,