Astrid Habiba Kreszmeier

Natur-Dialoge


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Aufmerksamkeitsmodus, der mit dem Streunen einhergeht, führt nie und nimmer zu einer in nur eine Richtung weisenden Linie, dazu ist er zu biologisch, zu wirklich, zu lebendig, anders gesprochen: Er ist schlicht und ergreifend zirkulär.

      »In der Biologie gibt es keine monotonen Werte«, schreibt Bateson und führt weiter aus:

      »Ein monotoner Wert ist ein solcher, der entweder nur zu- oder nur abnimmt … Begehrte Substanzen, Dinge, Muster oder Erfahrungssequenzen, die in gewissem Sinne gut für den Organismus sind – Nahrungsmittel, Lebensbedingungen, Temperatur, Unterhaltung, Sex und so fort –, sind niemals so beschaffen, dass mehr von der Sache stets besser ist als weniger davon. Vielmehr gibt es für alle Objekte und Erfahrungen eine Quantität, die einen optimalen Wert hat. Jenseits dieser Quantität wird die Variable toxisch. Unter diesen Wert zu fallen bedeutet Entbehrung« (Bateson 1987, S. 72).

      Inspiriert von Batesons Perspektive wage ich zu behaupten, dass Streunen in einer kulturellen Umwelt, die mit linearem Denken und einem ebensolchen Handeln seit ein paar Jahrtausenden in toxischer Liaison zusammenlebt, nicht nur antitoxisch ist, sondern auch eine enorme Bildungschance für zirkuläres Denken, Empfinden und Handeln. Es enthält die Chance zur Rückkoppelung unserer biologischen und kulturellen Verfasstheiten. Wir können nicht wissen, was dabei herauskommt. Aber ich vermute, dass ein Mehr an zirkulären Erfahrungen mit unserer Nische zumindest Unterschiede im mehrheitlich linearen Selbst- und Weltempfinden generieren würde. Das Wagnis ist es allemal wert.

      Jetzt aber wieder zurück zur Katze, unserer Mentorin. Das Streunen der Katze ist ja eben auch nicht monoton, sondern rhythmisch, zyklisch, zirkulär. Vom Haus aus betrachtet, kommt und geht sie, im Territorium selbst wird sie vermutlich als begnadete Streunerin immer wieder neue Wege und Bereiche erkunden. Auf diese Weise lernt die Katze den Raum kennen und der Raum die Katze. Selbst wenn unsere Katze keine große Abenteurerin ist und – angenommen – oft auf denselben Strecken streunt, wird sie doch jedes Mal einem anderen Raum begegnen, weil das Wetter, die Ameisen, die Büsche, die Gräser, die Autos, die Menschen, die anderen Katzen, die Vögel nie und nimmer zwei Mal in der genau selben Konstellation erscheinen. Hier ist alles einmalig gegenwärtig, unwiederholbar, ganz und gar nicht verallgemeinerbar. Man könnte sagen eine einmalige besondere Erfahrung, die eine spezielle Beziehungsqualität zwischen der Katze und ihrer Nische bildet. Streunen ist so gesehen für naturwissenschaftliche Erkenntnisse ziemlich ungeeignet, weil sich aus diesem speziellen Beziehungsgeflecht nichts isoliert untersuchen und schon gar nicht beliebig wiederholen und überprüfen lässt. Es ist daher auch höchst unwahrscheinlich, dass sich in nächster Zukunft Streunen als wirksame Methode per Krankenkasse abrechnen lassen wird, worüber ich – ehrlich gesagt – auch sehr froh bin.

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      Eigenlebendig, miteinander und spontan

      Bleiben aber dennoch die vielen Erfahrungsgeschichten von Streunenden, die wir im Laufe der Jahre immer wieder hören können. So unterschiedlich sie auch sein mögen, es wiederholen sich folgende Wahrnehmungsstränge: Hier ist zum einen die sinnlich, leibliche Erfahrung von Eigenlebendigkeit. Wir atmen und werden geatmet, wir tun und werden getan, wir richten uns aus und werden ausgerichtet. Diese eigentümliche Doppelwahrnehmung von aktiv und passiv, von geben und nehmen, erleben viele Menschen als Erfahrung von Eingebundensein. Sie ist – so meine Annahme – die reflektierte Erfahrung unserer biologischen Verfasstheit, um in Maturanas Bildern zu sprechen: Wir erfahren uns in unserer Existenz als molekulare autopoietische Lebewesen. Fortwährend fließen uns Moleküle zu und andere ab, und unsere gegebene Struktur sorgt dafür, dass wir uns in all dieser Bewegung als Lebewesen am Leben erhalten. Nicht weil eine äußere Kraft, ein Geist, ein Gott uns lenkt, sondern weil das, was wir als Leben erkennen, so funktioniert, so in der Welt ist, in ihr so handelt. Streunend erleben wir uns eigenlebendig, erfahren unsere zirkuläre Verfasstheit als existenziellen Halt, und viele beschreiben diese Erfahrung als entlastend, berührend, nährend und bewegend.

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      Als eigenlebendige Lebewesen erschaffen wir Menschen uns gemeinsam mit unserer Mitwelt, unserer Nische, in einer zyklischen, selbst erneuernden und reflektierenden Art und Weise. Wir sind nicht, wie bislang noch unsere Maschinen, auf Wartung von außen angewiesen. Die strukturimmanente Kooperation und die Koexistenz mit der Umgebung erhalten uns so frisch und so lange am Leben, wie es eben geht. Wenn in dieser kooperativen Koexistenz etwas maßgeblich gestört wird, dann stellen sich Unfälle oder Krankheiten ein. Wenn es nicht gelingt, ein gutes Zusammenleben wiederherzustellen, löst sich diese Organismus-Nischen-Einheit früher oder später auf. Dasselbe gilt, wenn im Laufe unseres natürlichen Alterns unser Austausch mit dem Raum bis hin zum letzten Atemzug zurückgeht und wir sterben und mit uns unsere Nischen. Gut, derweilen leben wir noch, das freut mich sehr!

      Diese eigenlebendige Grundausstattung ist in sich schon eine fantastische Angelegenheit. Dazu gesellen sich andere Großartigkeiten, ohne die das Leben und das Streunen gar nicht funktionieren würden: zum Beispiel die Spontaneität. Spontan, plötzlich, ungeplant, zufällig – das sind Wörter, die in den Berichten der Streunenden praktisch immer vorkommen. Viele berichten so, also wären sie in diversen Situationen von sich selbst überrascht worden, aber eben auch von der Umgebung, die ihnen ebenso spontan, plötzlich, ungeplant und zufällig entgegenkommt. Spontan heißt weder klug noch instinktiv, es garantiert auch keine angenehme Erfahrung. Dennoch trägt das Ausbleiben von spontaner Welt- und Selbsterfahrung ganz bestimmt zu einer traurigen, stereotypen, geschmacklosen oder aggressiven Stimmung bei. Vermutlich ahnen die Menschen, dass das Lebendige bis zu einem Grad unvorhersehbar ist, jederzeit spontan sein kann, ja spontan sein muss oder will. So, wie wir den Verlust des Spontanen betrauern oder uns gar darum betrogen fühlen können, so sehr inspiriert, ja animiert es Menschen, wenn sie der Spontaneität (wieder) begegnen: bei sich, in ihrer Nische und vor allem immer im fließenden Austausch von beidem.

      Zur Erinnerung: Wir sprechen hier von einer Erfahrung spontaner Eigenlebendigkeit in Wildräumen, die ihrerseits auch voller Lebewesen mit spontaner Eigenlebendigkeit sind. Im Kapitel »Zwischen den Dingen« (S. 200 ff.) werde ich mich auch besonders der Welt der menschengemachten Dinge und ihren Möglichkeiten resonanter Kooperation zuwenden. Hier schenken wir zuerst dem Streunen in »natürlichen Räumen« Aufmerksamkeit. Zum einen, weil die Eigenlebendigkeit dieser Räume uns darin unterstützt, dieses Phänomen des Lebendigen zu erkennen. Aber noch aus einem weiteren triftigen Grund: Solange wir Luft atmen müssen, solange wir Wasser trinken müssen, solange unsere Nahrung aus tierischen oder irdisch-pflanzlichen Kreisläufen entsteht, solange wir als menschliche Gemeinschaften hier auf Erden leben und sterben, so lange müssen wir diese irdische, vor Eigenleben strotzende Mitwelt als die uns nächste und wesentlichste Nische ansehen. Daher scheint es zuallererst wichtig, das Streunen in Naturräumen wiederzuentdecken, als grundlegende Basis für alles Weitere.

      Mit ihr erfahren wir die Spontaneität des Zusammenwirkens, die auf ungeheuer beständige Art an der Bewahrung dessen mitwirkt, was wir organisches Leben nennen. Hans-Peter Hufenus, mein Partner und beherzter Forscher von urgeschichtlichen Vorgängen, beschreibt den Beginn dieses seit ca. 3,8 Milliarden Jahren währenden Zusammenwirkens folgendermaßen:

      »Die ersten Lebewesen auf unserem Planeten waren die Blaualgen, die noch nicht eigentliche Pflanzen waren, sondern Bakterien mit der Fähigkeit, mittels Photosynthese Sauerstoff aus dem Wasser freizusetzen. Damit wurde der Weg frei für eine der großen Kooperationen des Lebens auf der Erde, nämlich die zwischen jenen, die Sauerstoff einatmen, und jenen, die ihn abgeben« (Hufenus 2021, S. 21).

      Diese und viele andere Formen von Kooperation haben bislang dafür gesorgt, dass dieser Lebensfaden in aller Spontaneität, aber auch der notwendigen wechselseitigen Fürsorge erhalten und weitergesponnen wurde. Hier sind wir, die wir heute leben, schon in ein dicht gewachsenes Lebensgewebe hineinverwickelt.