Astrid Habiba Kreszmeier

Natur-Dialoge


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      Wenn Irina hier stellvertretend für viele andere sagt: »Ich begann zu weinen, es begann mich zu weinen, der Fluss, der Stein, das Licht, meine Güte, ich wusste nicht mehr, wer wen anschaute, wer zu wem sprach – das war eine höchst lebendige Begegnung!«, dann geht es um eine sinnliche Erfahrung der Hineinverwickelung. Sie konnte für den Moment nicht mehr unterscheiden, wer zu wem sprach, aber ihre Erfahrung erzählt in keinem Wort von einer Erfahrung von Einheit, sondern von einer Begegnung, einer Bewegung mit einem bestimmten Gegenüber an einem bestimmten Ort. Das Ausrutschen, die Erde unter ihrem Hinterteil, das Innehalten, das Rascheln, dem sie folgte, der Stein, der sie lockte; all das sind Interaktionen jener eigenlebendigen Lebensgemeinschaft, die sich dort eingefunden hat. Hier kommen viele eigenständige Stimmen zusammen, nicht nur eine, die durch alles spricht. Hier begegnet sich vieles, das einander spontan gerufen, gesehen, aber sie ist deshalb weder mit allem verbunden noch geht sie in einer ozeanischen Erfahrung von Einheit oder Ganzheit auf. Sie erlebt verbundene, konkrete Vielfalt, die voreinander erscheint und miteinander lebt.

      Streunen hat das Potenzial, die Magie des Lebendigen erfahrbar zu machen. Das kann eine sehr – ich verwende hier bewusst diese schöne, wenngleich missverständliche Vokabel – beseelende Erfahrung sein. Es eignet sich allerdings nicht dazu, eine Erfahrung des »Alles ist eins« anzuzetteln. Wenn alles eins wird, dann hört sich das Streunen auf. Dann ist hier nichts mehr, was gehört, gesehen, getan werden will, dann ist die Welt samt ihren Organismus-Nischen-Einheiten von dem »Eins«, dem All, vom großen Ganzen verschluckt. Dann sind wir nicht mehr Lebewesen in einer vielfältigen Welt. Wer soll sie dann noch gestalten?

      Wir sind hier an einer delikaten und wichtigen Stelle in der Annäherung an den Natur-Dialog-Ansatz angekommen. Auch hier gilt: Es macht einen Unterschied, welche Unterscheidungen wir machen, welche Zusammenhänge wir beschreiben, welche Schlüsse wir ziehen und welches Handeln damit einhergeht.

      Die Notwendigkeit eines Bewusstseinswandels, der die Menschen zu mehr Verbundenheitskompetenz führt, ist heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen und Schichten unbestritten. Die Bemühungen, hier Beiträge zu leisten, sind schon lange aus dem sogenannten esoterischen Sektor in wohlsituierte Netzwerke und in den öffentlichen Diskurs gekommen.

      Die Ideen des Getrenntseins zum Beispiel von Menschen und Natur, von Innen und Außen, von Gestern und Heute haben ihr kreatives und gleichermaßen gewalttätiges Potenzial verschiedentlich unter Beweis gestellt. Es ahnen oder wissen heute viele, dass es Zeit wird für andere Herangehensweisen. Dabei scheint es für viele – seien sie in elitären Kreisen, im mittleren Kader, in Basisschichten oder Randkulturen tätig – auf der Hand zu liegen: Die Schlucht, die uns vom Lebendigen trennt, kann durch ein Erkennen einer All-Einheit überbrückt werden. Wir sind eine Menschheit, in einer Welt, in der alles mit allem verbunden ist. Wir suchen nach universellen Lösungen, in denen kohärente und nachhaltige Weltökonomie möglich ist. Andere suchen die Matrix, die uns Menschen zu neuer Vernunft kommen lässt und mit unserem Herzen in Einklang ist. Es scheint, als hätten sich viele Menschen kulturell darauf eingeschwungen, dass das Gegenteil von Getrenntsein ein Einssein ist.

      Hier werden Verschiedenheit mit Getrenntheit sowie Verbundenheit mit Einheit gleichgesetzt. Diese Schlüsse erscheinen mir unglücklich. Sie bringen uns um die wundervolle und wichtige Erfahrung, mit einer konkreten, vielfältigen Welt verbunden zu handeln. Es ist eine alte systemische Erkenntnis, die mir hier in den Sinn kommt: Die Aufhebung von Unterschieden macht keine Verbindung – im Gegenteil. Das gilt auch für all jene, die sich nach tieferer Beziehung mit der »Natur« sehnen, für jene, die ihre Bezogenheit zu unserem Planeten ändern wollen, und eben auch für Menschen wie mich, die das Verhältnis von Mensch und Raum als ein wesentliches Element von Gesundheit und Bildung erachten.

      In dem hier beschriebenen Ansatz, der Denkimpulse und Handlungsformen zur Rückkopplung an unsere irdische Gebundenheit ermöglichen will, ist nicht die Suche nach der einen Idee, der einen Ordnung, der einen Formel, dem einen Geschichtsstrang von Belang, sondern die konkrete Orientierung am vielfältigen Miteinander. Es setzt aus Überzeugung und Erfahrung im nur scheinbar bescheidenen Raum konkreter Handlungsbezüge an.

      »Nichts ist mit allem verbunden; alles ist mit etwas verbunden«, sagt Donna Haraway (2018, S. 48), Biologin und Wissenschaftshistorikerin und unermüdlich querdenkend Lehrende. Die Betonung der All-Verbundenheit holistischer und ökologischer Philosophien sei wenig hilfreich, führt sie in den Anmerkungen (ibid. S. 237) weiter aus:

      »Es ist eher so, dass alles mit etwas verbunden ist, das wiederum mit etwas verbunden ist. Es kann sein, dass wir am Ende alle miteinander verbunden sind, aber die Spezifik und das Maß der Nähe von Verbindungen sind von Gewicht – mit wem wir verbunden sind und auf welche Art und Weise. Leben und Tod finden innerhalb dieser Verhältnisse statt.«

      Sie spricht mir hier aus dem Herzen. Wie viele junge und ältere Menschen sind mir schon begegnet, die mit einer tiefen Gewissheit der All-Verbundenheit ausgerüstet, dennoch isoliert und verloren auf ihr konkretes Leben blickten? Wie, ach nur wie, dieses große Ganze in einen banalen Alltag packen und dem Anspruch an Selbst-Entwicklung in All-Verbundenheit gerecht werden? Nicht selten haben sich danach Geschichten der Erleichterung im Beforschen der konkreten Lebensumwelt, der menschlichen und auch der anders-als-menschlichen Weggefährten entsponnen. Auf diese Weise wurde dann, Schritt für Schritt, wirkungsvolles Handeln im eigenen Leben möglich.

      Wege zur Mit-Sprache

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      Seit gestern beschäftigt mich das Wort »Streunen«, das uns hier so wiederkehrend begleitet. Was wird etymologisch darüber erzählt, und haben Wörter mit euner, wie zum Beispiel Zigeuner, auch damit zu tun? Rund um letztere Frage bin ich nicht weitergekommen, konnte jedoch herausfinden, dass »streunen« auf das westgermanische Verb striunen zurückgeführt wird, das von »erwerben, gewinnen« erzählt. Dann kennt man aus dem Mittelhochdeutschen ein striunen, das von interessiertem, schnupperndem, neugierigem jedoch ziellosem Herumziehen spricht. Es gibt jedoch auch eine Strüne, die wiederum ein liederliches Frauenzimmer meint. Das ist ein weiterer, interessanter Bedeutungsfächer, der unserer Praxis des Streunens vielfältig zuspielt.

      Ja, beim Streunen, jenem Tun, in dem unsere atmende Bewegung nicht zielgerichtet ist, aber dennoch voll Interesse und Neugierde für das, was auftaucht, bei diesem Tun lässt sich viel gewinnen, ja sogar erwerben. Zugleich gibt es bei vielen Menschen, wenn sie vom Streunen hören, ein sattes Zögern. Man hört es in ihnen förmlich fragen: »Ist streunen erlaubt?«, »Geziemt sich ein ziellos neugieriges Herumstreifen?«, »Bringt das etwas?« Oder auch etwas philosophischer: »Wie kann Neugierde ohne Zielgerichtetheit in Bewegung außerhalb des Kloster- oder Zengartens funktionieren?«

      Die Einladung zum Streunen wirft allerhand Fragen auf, und manche von uns bringt es sogar in Schwierigkeiten; wer will schon ein liederliches Frauenzimmer sein? Unser Ich muss sich über geltende Ideen von Vernunft und Tüchtigkeit hinwegsetzen, will es sich streunend in Bewegung bringen. Das gelingt nicht immer und einfach grade so. Hier ist mit Rückfällen und Hindernissen zu rechnen, aber wer einmal den Geschmack des Streunens in der Nase hat – und das passiert bei entsprechender Rahmengestaltung doch häufig –, der trägt ihn als süße Erinnerung latent in sich. Welch hervorragender Dünger für ein gutes Leben und Zusammenleben.

      Fassen wir kurz zusammen: Für das Streunen verlassen wir unseren häuslichen Bezugsraum und ziehen neugierig, atmend, aufmerksamkeitsoffen durch die Welt. Diese ist erstens idealerweise nicht voller Werbeplakate, überlässt also unsere Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit sich selbst. Da dies heute fast nur mehr in wilden Räumen der Fall ist, findet es am besten dort statt. Zweitens ist es auch hilfreich, das Smartphone im Flugmodus mitzutragen oder es, noch besser, zu Hause zu lassen, was allerdings die wenigsten aus Risikoerwägungen und Verantwortungsbewusstsein noch tun werden – also Flugmodus. Gerade kommt mir ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn wir weiterhin corona- oder anders bedingt so wenig fliegen und allenfalls