Astrid Habiba Kreszmeier

Natur-Dialoge


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Matthew Crawford stellt in seiner Ethik der Aufmerksamkeit das Konzept der Aufmerksamkeitsallmende vor und will in ihr die eigene Aufmerksamkeit als allgemeines Gut sehen. »Es gibt nichts, was uns mehr gehört als unsere Aufmerksamkeit. Im Normalfall suchen wir uns aus, worauf wir Aufmerksamkeit richten wollen, und das bestimmt in einem sehr realen Sinn, was in unseren Augen wirklich ist – was tatsächlich in unserem Bewusstsein existiert. Daher ist die Inanspruchnahme unserer Aufmerksamkeit eine besonders persönliche Sache.« (Crawford 2016, S. 28)

      7 Übersetzung der Autorin; Zitat aus The Origin of Life and the origin of Living, Beitrag von Humberto Maturana und Ximena Dávila in der 33bienal, Sao Paulo 2018 (Lehrunterlage der Weiterbildung »Fundaments of Cultural Biology«, Matriztica Institute).

      8 Jene West-Ost-Verbindung, die seit den 1960er-Jahren und der 68er-Bewegung sowohl politisch also auch kulturell sehr präsent ist, könnte auch in einem wesentlich größeren Bogen gesehen sein. Jan Assmann nimmt in seinem Buch Achsenzeit den Diskurs von Karl Jaspers’ Idee der »Achsenzeit« auf und zeigt darin, dass dieses Modell, das von einer zeitgleichen Erscheinung großer prophetischer Männer und ihrer transzendenten Einheitslehren nur aufgrund der Ausblendung des bereits existierenden Kulturen des Südens möglich war bzw. ist. Er sieht hier die bis heute wirksame Tendenz, die Verbindung von West und Ost anstelle einer gesamthaften Schau in den Blick zu nehmen.

      9 Hartmut Rosas Ausführungen zu Resonanz (2018) und Unverfügbarkeit (2020) helfen hier beim Weiterdenken: »Resonanz bedarf einer erreichbaren, nicht einer (grenzenlos) verfügbaren Welt. Die Verwechslung von Erreichbarkeit und Verfügbarkeit liegt an der Wurzel des Weltverstummens in der Moderne« (Rosa 2020, S. 67).

      10 Vgl. Maturana u. Verden-Zöller (2005). Das kommt dem sehr nahe, was Maturana in seinen Überlegungen zur Biologie der Liebe zu erkennen meint: »Love is a manner of relational behaviour through which the other arises as a legitimate other (as an other that does not need to justify his or her existence in relation to us) in a relation of coexistence with oneself« (Maturana in einem unveröffentlichten Skript zu der Weiterbildung Fundaments of Cultural Biology).

      11 Mit dem Schicksal indogermanischer Völker, das gemeinsam mit seiner Sprache als eine Geschichte von Kriegen und Gewalt erzählt wird, beschäftigen wir uns genauer im Kapitel »Wohin reichen unsere Erinnerungen« (S. 165 ff.).

      12 In ihrem Buch Unruhig bleiben widmet Donna Haraway ein Kapitel der Sympoiesis. Dort stellt sie auf Seite 88 fest: »Solange Autopoiesis nicht selbstgenügsames selber machen/sich-selber-machen meint, sondern von der Gewichtung verschiedener Aspekte systemischer Komplexität handelt, besteht zwischen Autopoiesis und Sympoiesis ein produktives Reibungsverhältnis, oder auch: ein Verhältnis der generativen Umarmung, nicht eines der Opposition« (Haraway 2018, S. 88).

       3Weiter weben

       »Sobald ein feines Weberschiffchen Himmel, Industrie, Texte, Seelen und moralisches Gesetz miteinander verwebt, wird es unheimlich, unvorstellbar und unstatthaft.«

      Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 10

      Grüne Grenzen

      Nun aber zurück in die Praxis – genauer in die psychotherapeutische Praxis. Zu einem Ort also, in dem sich dazu ausgebildete Menschen darum bemühen, anderen Menschen zu besserer Lebensqualität zu verhelfen. Was und wie hier genau vonstattengeht, -gehen soll und -gehen darf, das prägen die psychotherapeutischen Schulen, die sich in theoretischen und methodischen Zugängen unterscheiden und überschneiden, vor allem jedoch die kulturellen sowie sozial- oder gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen. Diese ermöglichen und wachen mithilfe ihrer rechtlichen Strukturen, ihrer finanzsteuernden Institutionen und den fachlichen Diskursprozessen darüber, dass – salopp gesprochen – überall, wo Psychotherapie draufsteht, auch Psychotherapie drinnen ist (oder auch psychologische Beratung, Lebens- und Sozialberatung und anderes). Selbst wenn die Psychotherapie ein relativ junges berufliches Gewerbe ist, so ist sie, wie jedes andere moderne Berufsbild auch, ständig Anpassungen und Veränderungen ausgesetzt. Qualität und Sicherheit gegenüber den Klient:innen, gegenüber den institutionellen Partnern, gegenüber dem kollegialen Netzwerk sowie gegenüber dem relevanten öffentlichen Raum fordern und fördern Qualitätsstandardisierungen, Dokumentationsrichtlinien und Schutzkonzepte.13 Wer in diesem Feld eine professionelle und offizielle Anerkennung anstrebt oder repräsentiert, wird die Reinheitsgebote seiner Gilde und ihrer Umgebung mitgestalten und umsetzen. Er oder sie oder die Praxisgemeinschaft muss reflektierend anerkennen, was Psychotherapie (oder auch jede andere Profession) ist, was sie für wen und mit wem tut und was nicht. Wie und wie lange sie es tut, und letztlich auch, wo sie es tut. Das Ausverhandeln der professional-territorialen Grenzen schafft ein komplexes Zusammenspiel von Systemen und Strukturen. Es ist ein hochpolitisches Geschehen, das zwischen Ärzt:innen, Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen, Lebens- und Sozialberater:innen, Sozialarbeiter:innen, Seelsorger:innen, Priester:innen, Physiotherapeut:innen, Naturheilpraktiker:innen, zwischen Komplementärtherapien, Apotheken, Pharmabetrieben, Berufsverbänden, medizinischem Fachpersonal, Rettung und Notfallstellen, Rechtsbestimmungen, Schaman:innen, Gurus und Zen-Meister:innen, Krankenkassen und Hausmittelkundigen, Medien, Verlagen, Banken, Hauseigentümer:innen, Ombudsstellen, arbeitsmarktlichen Bestimmungen, freimarktlichen Dynamiken, freilich den Hilfesuchenden selbst und ganz vielen, die ich hier nicht aufgezählt habe, im Gange ist. Welch ein vielarmiges Geschehen, das ständig darum bemüht ist, saubere Grenzen und einen ebensolchen Grenzverkehr sicherzustellen! Dennoch – so scheint es – sind Schmuggler und Schlepper ständig am Werk. Von besonderer Bedeutung für uns scheint mir noch etwas: nämlich die vielen Kilometer der sogenannten grünen und blauen Grenzräume.

      Dort bei diesen Wäldern, Auen, Bergen, Steppen, Wüsten, Flüssen oder Meeren findet fortwährend Austausch statt. Vögel, Füchse, Schnecken, Samen, Mikroben, Bären, Wölfe, Pilze, Pflanzen, Viren, radioaktive Strahlung, Wüstensand – alles überschreitet in unserer Biosphäre unermüdlich nationale Grenzen und gestaltet fortwährend in Bewegung topografische Rand- und Übergangsräume. Fruchtbar und furchtbar zugleich, je nach Betrachtung und Interesse. Naturgemäß sind auch Menschen und ihre Schicksale an diesen grünen Grenzen unterwegs. Dunkle und helle Momente des Menschlichen erzählen sich hier, damals wie heute: Menschenschmuggel, Flüchtlings- und Rettungsschifffahrt und Grenzhilfen der besonderen Art.14

      Moderne Trennungen

      Landesgrenzen werden bekanntlich an Grenzposten entlang von Luft-, Land- und Wasserstraßen gehütet. Sie sind genau genommen nicht mehr als wenige Punkte entlang ausgewählter Linien. Es handelt sich um Repräsentanten eines wesentlich umfassenderen Raumes, der ein Land ausmacht. Wir sind es gewöhnt, diese Verkehrspunkte, -knoten und -linien zu einer gesamten Fläche zusammenzudenken. Das hat vereinfachende Wirkung, ist jedoch – um in Batesons Jargon zu bleiben – ungenau. Diversität und Größe des irdischen, natürlichen Raumes kippen aus unserer Aufmerksamkeit, gehen im stereotypen Netz nationaler Grenzpunkte verloren. Sie rücken erst dann wieder ins Bewusstsein, wenn soziale, politische, ökonomische oder biologische Umstände die repräsentierenden Grenzübergänge in Frage stellen. Dann wird an andere Stellen ausgewichen und versucht, in das Gebiet »einzufallen«.

      Dazu fällt mir eine berührende Geschichte ein: Viele Jahre lang sind wir von unseren Seminarreisen in Griechenland mit den Autofähren von Patras, Peloponnes, nach Venedig, Italien, gefahren. Es war noch zu einer Zeit, in der wir mit Kajaks, also mit einem Anhänger voller schlanker Boote unterwegs waren. Der Fährhafen von Patras war jedes Jahr von einem höheren, jedoch noch improvisierten Zaun eingefasst, an dem sich Flüchtlinge und Asylsuchende drängten, nach irgendwelchen Schlupflöchern Ausschau haltend, durch