Astrid Habiba Kreszmeier

Natur-Dialoge


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anders tickenden Lebensumwelt tun, nicht nur funktioniert, sondern uns ernährt und erfüllt und in all den Jahren nie langweilig geworden ist. Seit zwanzig Jahren ist der Rosenhof unser Seminarhaus und Praxisraum in einem ländlichen Gebiet, am Rande eines appenzellischen Dorfes. Der Westhang hinter dem Haus lässt zwar die Sonne früher untergehen, aber er schützt uns vor kalten Winden. So gedeihen hier allerlei prächtige Blumen, Sträucher, Kräuter und Bäume, ehe sich ein wildes Wald-Tobel hinunter zu einem kleinen, aber frei fließenden Fluss namens Sitter neigt. Scherzhaft sagen wir manchmal, unser Esalen4 liegt eben nicht an der Klippe zum Pazifik, sondern an einer Klippe zum Fluss.

      Die Menschen, die uns aufsuchen, sind so vielfältig wie der Garten. Jünger, älter, männlich, weiblich, arm und reich und aus allerlei beruflichen und sozialen Umfeldern. Sie kommen aus den Nachbardörfern und aus den Städten, von nah und fern. Sie kommen mit Krankheiten, Anliegen, mit Interesse oder einfach aus Freude.

      Und auch wenn sich unsere Arbeitsweisen verschiedentlich beschreiben lassen, so sind sie doch alle von einer markanten Qualität geprägt: von der Praxis des Streunens. Ja, es ist fast ein bisschen simpel und doch offensichtlich: Das Streunen wurde zum Herzstück unseres Wirkens. Es gibt kaum eine andere Art von Weltenbezug, dem wir so viel an Geschenken und Einsichten, Möglichkeiten und Dialogen verdanken. Man darf annehmen, dass es sich mittlerweile herumgesprochen hat: Bei uns kann man das Streunen lernen.

       Zwischen häuslichem Schutz und wildem Raum 5

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      Streunen ist eine sehr eigenwillige Weise, in der Welt zu sein. Für gewöhnlich wird das Streunen Tieren zugesprochen. Katzen sind hierzulande vermutlich die bekanntesten »Streunerwesen«. Sie bewegen sich – sofern sie nicht absolute Wohnungs- oder Hauskatzen sind – sozusagen nach Lust und Laune nach draußen, sie streifen durch das Gebiet, ohne ersichtliches Ziel; halten inne, setzen sich, laufen weiter. Sie erkunden den Raum, nahezu belanglos, ohne von ihm etwas zu wollen, nur um sich in ihm zu bewegen. Eine Katze am Streungang ist nicht auf der Jagd, zumindest so lange nicht, bis ihr etwas ganz interessant Erscheinendes über den Weg läuft, das sie daran erinnert, dass sie auch eine Jägerin ist. Und selbst dann ist nicht sicher, ob unsere Katze das genüssliche Streunen zugunsten des erregenden Jagens aufgibt.

      Ich verstehe nichts von Katzen, bin ihnen weder besonders zunoch abgeneigt, aber in Sachen Streunen können wir von ihnen lernen. Ihre Mischung aus häuslicher Anhänglichkeit und wildnisorientiertem Bewegungsverhalten ermöglicht, dass wir sie relativ häufig und gefahrenfrei wahrnehmen, ja sogar beobachten können. Ich vermute, dass auch Wildschweine, Feuersalamander, Rehe und Dachse, ja vielleicht sogar alle Vierbeiner streunen, und wahrscheinlich streunen auch Vögel. Milane zum Beispiel sind sehr elegante Luftstreuner. Der Unterschied liegt wohl nur darin, dass all diese »Wildtiere« entweder sagenhaft schnell verschwinden oder uns gar als Beute oder Feind ausmachen, wenn wir ihnen im Nahbereich begegnen. Dann ist es mit ihrem Streunen vorbei – und damit auch mit unserem Zuschauen.

      Hier noch eine wichtige Unterscheidung, ehe wir weiterziehen: Eine Katze, die ihre Streunschlaufen zieht, ist nicht mit einer ständig streunenden Katze zu verwechseln. Eine ständig streunende Katze hat – weshalb auch immer – kein »Haus«, in das sie durch ein Katzenklapptürchen gelangt, wann immer es ihr beliebt. Die ständig streunende Katze beginnt einen Verwilderungsprozess, der durch die viele Jahrtausende währende Koexistenz von menschlicher und kätzlicher Spezies gar nicht so einfach ist und meist doch dadurch unterbrochen wird, dass die betroffene Katze sich eine neue Wohnung samt deren Bewohner:in sucht. Wer kennt nicht jemanden, der von einer zugelaufenen Katze regelrecht erobert wurde? Das funktioniert freilich nur bei einem ausgewogenen Verhältnis von Häusern und Katzen. Andernfalls kann es schon zu hauslosen Katzenhorden kommen, die mit Vorliebe Restaurant-Viertel überfallen. Übrigens oft zeitgleich mit den Touristenhorden, aber das ist ein anderes Thema.

      Nun aber zurück zu jenem Streunen, das sich im speziellen Zusammenspiel aus häuslichem Schutzort und offenem Wildraum entwickeln kann. Es ist auch für uns Menschen möglich, zumindest für jene, die einen häuslichen Schutzort und einen offenen Wildraum einigermaßen in Reichweite haben. Leider ist das jedoch nicht selbstverständlich, und so ist auch die Kunst des Streunens – so wie viele Erbschaften aus frühen Zeiten der Menschgeschichte – vom Aussterben bedroht.

      Streunen ist jene Bewegung im Raum, die keinem Ziel folgt und vor nichts flüchten muss. Die nichts wollen muss und ganz bestimmt nichts vermessen, erkennen, vergleichen. Sie muss nichts nehmen und nichts geben, auch wenn wir, solange wir atmen, gar nicht anders können als fortwährend zu nehmen und zu geben. Wir können beim Streunen den Raum und seine Dinge ganz einfach in ihrem Zusammenwirken belassen und müssen nichts (können aber, wenn es sich einstellt) aus ihm herauszoomen, herausextrahieren oder gar isolieren. Wir können das Zusammenleben sinnlich wahrnehmen, uns in und mit diesem Gewebe erkunden und ein wenig vom ständigen Werden überrascht werden. Das ist herrlich!

      Ohne Ziel, jedoch nicht ohne Halt

      Das Streunen erlaubt also jenen Modus, in der unsere Aufmerksamkeit, die ja immer auch eine leibliche Aufmerksamkeit ist, nicht von Werbesignalen raffiniert eingefangen, von Rechenmaschinen gelenkt oder von Marktinteressen bespielt wird. In ihm darf unsere Aufmerksamkeit einfach da sein, inmitten einer Umgebung, die auch einfach da sein darf. Wir bewegen uns in einer Aufmerksamkeitsallmende, einem Raum, in dem alle das Recht auf ihre Aufmerksamkeit haben.6

      Wir müssen hier nichts voneinander wollen, nur atmend den Sinnen folgen, so wie wir eben biologisch ausgestattet sind. Nur atmend den Spuren folgen, die uns unsere Geschichten zuspielen, so wie wir Menschen das eben tun. Nur atmend uns im Raum bewegen und allein dadurch in ihm handeln, gemeinsam mit allen anderen Handelnden im Raum.

      Beim Streunen lenken wir unsere Aufmerksamkeit dorthin, wohin wir sie lenken (wollen), und zugleich wird sie dorthin gelenkt, wohin sie gelenkt werden will. Hier sitzt weder ein innerer Chauffeur am Lenkrad, der weiß wohin es gehen muss, noch regelt ein Polizist unsere Bewegung. Außer wir behandeln uns selbst so, als gäbe es Chauffeur und Polizist, was leider kulturell bedingt oft der Fall ist.

      Wenn das »reine Streunen« gelingt, dann folgen wir den sinnlichen Impulsen und richten uns nach ihnen aus. Hier greifen der uns umgebende Raum und wir als Individuen fortwährend ineinander, aufeinander bezugnehmend bilden wir uns miteinander aus. So sind wir zwar ohne vorbestimmtes Ziel auf dem Weg, jedoch nicht ohne Halt. Im Gegenteil: In diesem Aufmerksamkeitsdreh, der hier geschieht, fühlen sich Menschen in hohem Maß gesammelt, führend und geführt und zugleich gesehen und gemeint.

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      »Das ist doch wirklich verrückt«, erzählt Irina nach einer Zeit des Streunens und schüttelt noch immer den Kopf. »Ich war froh, ein bisschen Zeit für mich zu haben, und ich wollte an den Fluss, ganz im Dorthin-gehe-ich-dorthin-will-ich-Modus. Und nach ein paar Schritten bin ich ausgerutscht und sanft auf dem Hinterteil gelandet. Dort blieb ich, weil es einfach der beste Ort war zum Sein und ich ja auch nicht wirklich zum Fluss musste. Irgendwann hat mich ein Rascheln aufgeschreckt, dem bin ich gefolgt. Es war gar nichts Besonderes, einfach ein Folgen, das mich zu einem großen bemoosten Stein geführt hat. So, als würde er sagen: Sei willkommen! Kaum hatte ich mich auf ihm niedergelassen, sah ich erst, dass er so einen schönen Ausblick auf den Fluss bot, der dort unten silbern glitzerte. All das war so unmittelbar und so schön. Ich begann zu weinen, es begann mich zu weinen, der Fluss, der Stein, das Licht, meine Güte, ich wusste nicht mehr, wer wen anschaute, wer zu wem sprach – das war eine höchst lebendige Begegnung. Wenn das Streunen ist, dann habe ich jetzt eine Ahnung, wovon ich in Zukunft mehr machen werde!«

      Gesunde Verstörungen

      Irinas Erfahrung erzählt beispielhaft, was Streunen alles kann. Es kann uns, sofern wir uns auf einen Weg oder ein Vorhaben