Astrid Habiba Kreszmeier

Natur-Dialoge


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die ja auch schon riechen können, einen Streunmodus. Oh du meine Güte, dann müssen wir uns eine Alternative einfallen lassen!

      Hier erleben wir gerade, was geschieht, wenn wir denkstreunend etwas zusammenfassen wollen. Das geht eigentlich nicht, weil streunende Aufmerksamkeit die Welt aufblättert oder auch auffaltet, eben erscheinen lässt. Wenn wir sie zusammenfassend einfalten wollen, müssen wir den Modus ändern. So beginne ich also noch einmal von vorne.

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      Fassen wir kurz zusammen: Für das Streunen verlassen wir unseren häuslichen Bezugsraum und ziehen neugierig, atmend, aufmerksamkeitsoffen durch die Welt. Dabei werden manche unserer üblichen Denk- und Handlungsmuster verstört. Es kann zu Erfahrungen wechselseitig lebendiger Begegnungen kommen, die sich unvorhersehbar spontan – nicht zu verwechseln mit irrelevant oder beliebig – in offener Aufmerksamkeit entwickeln. Es könnte sein, dass wir in dieser Bewegung begreifen, wie sehr wir als Erlebende mit Elementen oder Lebewesen unserer Mitwelt in einer kooperativen Verschränkung aktiv sind und dass dieses Miteinander auf alle einwirkt. Es kann sein, dass in diesem Modus des nicht zielgerichteten Seins manches in besonderer Weise in unsere Aufmerksamkeit rutscht, vor uns erscheint, so wie wir auch anderem erscheinen. Und es kann sein, dass dieses Auftauchen und Gesehensein, dieses Gegenwärtigsein-lassen und Gegenwärtig-sein, zusammen mit allem anderen, eine Atmosphäre kreiert oder eben da sein lässt, die wir als liebevoll, pulsierend verbunden, als Leben bewahrend und Lebendigkeit bildend beschreiben können. Und mit ein bisschen Glück können wir erahnen, was es heißt, miteinander Welt zu gestalten, und dass solches Zusammenleben nicht nur möglich ist, sondern auch stattfindet, wenn man nur dem Leben etwas Chance dazu gibt.10

      Sympoietische Annäherungen

      Etwas im Leben eine Chance zu geben, heißt für uns Menschen, dass wir diesem Etwas eine Stimme geben, dass wir es in Wortsprache bringen, dass wir darüber nachdenken, und vor allem auch, dass wir mit anderen darüber sprechen können. Katzen müssen das so nicht, zumindest wissen wir nicht viel darüber, ob und was eine Katze beim Streunen denkt und wie sie allenfalls ihre Erfahrung mit ihrer Mitwelt in Austausch bringt. Sie tut das ganz bestimmt in aller katzischen Handlungskraft. Wir können von Katzen in Sachen Streunen viel lernen. Wie sich im Raum bewegen, die Rhythmik von Stehen und Gehen, die Eigenwilligkeit ihrer Aufmerksamkeit, ihre konzentrierte Zuwendung zu dem, was ihr bedeutsam wird. Wir können versuchen so zu tun, als seien wir eine Katze, und unsere leibliche Empathie wird uns helfen, einen guten Einstieg ins Streunen zu finden. Aber im inneren sprachlichen Dialog und im Austausch mit anderen, da sind wir dann auf unsere typisch menschlichen Ressourcen zurückgeworfen.

      Hier landen wir in dem, was wir Sprache nennen, samt Grammatik, Vokabular, Tiefenstrukturen, und in den kulturellen und biografischen Feldern, die durch sie erschaffen werden. Die Art und Weise, wie wir über das Streunen sprechen, greift ins Geschehen ein. »Die Sprache betont gewöhnlich nur eine Seite jeder Wechselwirkung«, meint Bateson (1982, S. 80 ff.). Sie suggeriere, dass ein einzelnes Ding irgendeine Eigenschaft haben kann. Das ist schlicht und ergreifend ungenau, weil nichts für sich alleine steht. Alles existiert nur in ständiger Beziehung und Wechselwirkung. Alles wird von eigenen Relationen und seinem Verhalten in Beziehung zu anderen Dingen und zum Sprecher »gemacht«. Für solch bewegte Sachverhalte eignet sich unsere Sprache nur wenig.

      Wir, hier gemeint die indogermanischen Sprachgruppen, versprachlichen uns – zumindest seit ein paar tausend Jahren – ungenau. Unsere Sprache schafft Abgrenzungen, wo auch Beziehung waltet; sie hält fest, wo auch Bewegung ist, und schafft Hierarchien, wo auch Kreise und Wellen sein könnten. Wir suchen nach kausalen Schlüssen, wo etwas am Entstehen ist, und betonen das Individuum, wo es um Interaktion geht. Kurz: Unserer aktuellen Sprache fehlt es an Wortschatz und Struktur (glücklicherweise nicht an Poesie!), wenn es um lebendige Zusammenhänge geht. So gehen viele Facetten, viele Handlungen und ebenso viele Beteiligte des Geschehens im wahrsten Sinne des Wortes verloren und mit ihnen auch Stimmungen, Dissonanzen, Ideen, Möglichkeiten, Positionen. Am Ende verschwindet dieser fruchtbare Austausch mit anderen, der uns helfen könnte zu begreifen, was wir gerade erleben, was in unserer Nische geschieht und wozu es uns führt.

      Für indogermanische Sprachen, die auf ihre Weise auf Abgrenzung und lineare Schlussfolgerungen spezialisiert sind, ist es schwierig, ein differenziertes Verhältnis zu kooperativen komplexen Vorgängen zu entwickeln.11 Es fällt uns schwer, in der Welt Kooperation zu sehen, Kooperation zu denken oder gar in diese Richtung zu forschen. Es fällt uns schwer, Fragen zu stellen, die uns dem beidseitig Ineinandergreifenden, Vielgestaltigen, Gleichzeitigen näherbringen.

      Unsere Geschichte(n), Mythen und Wissenschaften sind entsprechend gefüllt mit Kämpfen, Kriegen, Helden und Märtyrern, vom Überlebenskampf in feindlicher Umgebung und Selektion der »Besten«. Wer den Blick auf kooperative Prozesse lenkt, wird belächelt, ignoriert oder gar behindert.

      Als – um ein Beispiel zu nennen – Lynn Margulis (vgl. Margulis 2018), eine US-amerikanische Biologin (1939 – 2011), die sogenannte Endosymbiontentheorie aufgriff und vertieft beforschen wollte, wehte ihr lange kalter Wind entgegen. Die Idee, dass schon in frühen Stunden der Evolution symbiotische Prozesse zur Entwicklung von maßgeblichem Leben geführt haben könnten, schien den gängigen Auffassungen von Wirklichkeit absurd. Dass Symbiose und symbiotische Prozesse Leben bilden, widersprach der Idee einer linearen, auf Selektion und Adaption ausgerichteten Evolutionsschau. Auch wenn heute ihre Theorien weitestgehend bestätigt sind, bleiben sie und ihr Ansatz der Symbiogenese, der die Evolution kooperativ denkt, weitgehend unbekannt oder aber mit dem Geschmack von esoterischem Halbwissen belegt. Dass sie zu einer wesentlichen Vertreterin der mit James Lovelock entwickelten Gaia-Hypothese wurde, hat die Sache nicht einfacher gemacht. Da hat es auch nicht genützt, darauf zu verweisen, dass die Gaia-Hypothese keine alte Göttin ehrt, sondern die Erde als ein autopoietisches, lebendiges System beschreibt, in dem wir Menschen keine Passagiere sind, sondern aktive Mitwirkende. So ist das eben. Das kann man Darwin nicht vorwerfen. Er ist einfach der prominentere Kerl und wird es wohl auch noch einige Zeit bleiben.

      Die Beschreibungen von Maturana und Varela rund um die biologischen und neurobiologischen Grundlagen waren revolutionär, aber ihr Fokus und ihre Wortwahl waren in den 1980er-Jahren auf die Autonomie und die operationale Geschlossenheit des Lebewesens bezogen. Ihnen war klar, dass eine autopoietische Einheit, ein sich selbst erhaltendes Lebewesen, nur in Kooperation mit »seinem« physischen Raum existiert, aber mit ihrer Begriffswahl lenkten sie die Aufmerksamkeit auf das abgegrenzte Lebewesen und nicht auf die Interaktionen mit der Umwelt.

      Angenommen, Lynn Margulis hätte mit Humberto Maturana und Francisco Varela geforscht: Hätten sie vielleicht ihre Erkenntnisse unter dem Titel Sympoiese12 in die Welt hinausgetragen? Und wären sie dann auch so prominent geworden?

      Wie auch immer: Auf der Suche nach der Sprache und den Narrativen, die uns helfen zu erzählen, was uns nicht nur beim Streunen passiert, sondern ganz generell beim Leben in und mit der Welt, kommen mir »Sympoiese« oder auch »sympoietisch« sehr entgegen. Sie lenken unseren Fokus auf das Beziehungsgeschehen, auf das Miteinander, auf das Mit-Machen, auf das Mit-Werden. Das können wir gut brauchen.

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      4 Das Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien ist ein seit den 1960er-Jahren aktives Bildungszentrum, das einen humanistisch-interdisziplinären Schwerpunkt und im Laufe der Jahre viele klingende Namen und Netzwerke beherbergt hat, ein gesellschaftskritischer Think Tank mit starken Einflüssen aus dem asiatischen Kulturraum. Michael Murphy, Henry Miller, Carl Rogers, Joan Baez und Fritz Perls haben hier gewirkt. Auch Gregory Bateson war an der Gründung mit beteiligt und hat seine letzten Lebensjahre dort verbracht. Siehe auch: www.esalen.org [29.06.2021].

      5 Es müsste hier freilich Wildnisraum heißen. Ich spreche hier abwechselnd von wildem Raum oder Wildraum, weil eigentliche Wildnisräume, also Räume, die in einem ausgewogenen Maß menschlicher Beeinflussung ausgesetzt sind und eigenlebendig existieren, weder in stadtnahen noch in landwirtschaftlichen