wurde ja erst durch die Ausübung des Gestaltungsrechts (Rücktrittserklärung) – also nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung – bewirkt. Die eigentliche Einwendung (Erlöschen des Zahlungsanspruchs) ist also erst nach dem entscheidenden Zeitpunkt entstanden.
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Damit ist eine der wichtigsten und bekanntesten Streitfragen des Zwangsvollstreckungsrechts angesprochen: Für die Präklusion nach § 767 II ZPO ist streitig, ob es bei Gestaltungsrechten (Rücktritt, Widerruf, Aufrechnung usw.) auf die objektive Möglichkeit der Ausübung oder die tatsächliche Ausübung des Rechts ankommt.
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Die Rechtsprechung und ein großer Teil der Literatur gehen davon aus, dass es für die Präklusion nur darauf ankomme, ob das Gestaltungsrecht objektiv vor Schluss der letzten mündlichen Verhandlung ausgeübt werden konnte. Kenntnis davon und die eigentliche Ausübung seien unerheblich[27]. Begründet wird dies zumeist mit dem Schutz der Rechtskraft und einem Vergleich zwischen § 767 I und II ZPO. Wenn das Gesetz in § 767 I ZPO von „Einwendungen“ und in § 767 II ZPO von „Gründen der Einwendungen“ spreche, so sei bewusst etwas Unterschiedliches gemeint. Demnach sei „Einwendung“ die Erklärung des Gestaltungsrechts selbst, „Grund“ hingegen die objektive Möglichkeit der Ausübung.
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Die (wohl) herrschende Ansicht in der Literatur hingegen geht davon aus, dass es nur darauf ankomme, wann das Gestaltungsrecht ausgeübt worden sei[28]. Denn zum Entstehungstatbestand des Gestaltungsrechts gehöre die jeweilige Erklärung als dessen Ausübung. Es sei auch nicht einzusehen, warum der Beklagte im Prozess gezwungen sein soll, das Gestaltungsrecht zu erklären, obwohl es ihm nach materiellem Recht freistehe, wann er von seinem Recht Gebrauch machen will. Schließlich bestehe nicht die Gefahr einer „Bevorzugung“ des Schuldners. Denn jeder Schuldner werde ein Gestaltungsrecht so früh ausüben, wie er nur könne. Das überzeugt. Kein Schuldner ist bereit, zunächst einen Prozess absichtlich zu verlieren (Kosten!), um dann erst hinterher (quasi querulatorisch) noch ein Gestaltungsrecht auszuüben, was ihn von der Schuld befreit. Betroffen sind von der Streitfrage daher immer nur Schuldner, denen ihr Gestaltungsrecht im Ausgangsrechtsstreit unbekannt war. Diese sind im Regelfall schutzwürdig.
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Vereinzelt wurde früher darauf abgestellt, wann der Kläger Kenntnis von der Möglichkeit der Ausübung des Gestaltungsrechts erhalten hat. Diese Meinung ist entschieden abzulehnen und wird soweit ersichtlich nicht mehr vertreten. Sie würde dazu führen, dass im Prozess Beweis darüber geführt werden müsste, wann der Schuldner „Kenntnis“ von bestimmten Tatsachen erhalten hat. Das ist teuer, zeitaufwendig und kaum Erfolg versprechend. Zudem ist das taktische oder querulatorische Zurückhalten von Einwendungen, dem diese Ansicht entgegenwirken möchte, praktisch irrelevant.
bb) Sonderfall Aufrechnung
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Beispiel 22 (Pflicht zur frühzeitigen Aufrechnung?):
Gläubiger G und Schuldner S sind Bauunternehmer, die viel zusammenarbeiten. Nun kam es zu Schwierigkeiten. G hat den S erfolgreich auf Zahlung von Werklohn für Bauleistungen verklagt. Nach Ende des Prozesses erklärt nun S die Aufrechnung und legt Vollstreckungsabwehrklage ein. Er hatte nämlich inzwischen Mängel angezeigt, die an Bauwerken aufgetreten waren, die G vor vielen Monaten für den S errichtet hatte. Da G diese Mängel nicht fristgerecht beseitigte und dem S in der Folge ein Schaden entstand, machte S nun nach §§ 634 Nr. 4, 281 BGB Schadensersatz geltend und rechnete auf.
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In Beispiel 22 ist klar, dass die Aufrechnung sowie die Aufrechnungslage erst nach Verfahrensende entstanden sind, so dass an sich nach keiner Ansicht Präklusion eingetreten sein kann. Jedoch ist vertreten worden, dass es bei der Aufrechnung nicht auf die Aufrechnungslage ankommen solle, sondern darauf, wann der Schuldner diese Aufrechnungslage habe herbeiführen können[29]. Zu Recht folgt der BGH dem nicht[30].
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Beispiel 23 (Ausschluss der Aufrechnung im Erkenntnisverfahren):
Schuldner S hat im Ausgangsrechtsstreit in der Berufungsinstanz hilfsweise die Aufrechnung mit einer Gegenforderung erklärt. Das Berufungsgericht hat diese nach § 533 ZPO zurückgewiesen, weil Gläubiger G das Bestehen der Gegenforderung bestritten hat. S legt nun unter Berufung auf die Aufrechnung mit genau dieser Gegenforderung Vollstreckungsabwehrklage ein. Wird er Erfolg haben?
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Der BGH meint, dass die Aufrechnung auch in Fällen, in denen sie im Rechtsstreit aus prozessualen Gründen nicht geltend gemacht werden durfte, nach § 767 II ZPO ausgeschlossen sei. Anders ausgedrückt besteht also für solche Fälle keine Ausnahme. Das überzeugt vollkommen, denn die Präklusionsvorschriften des Erkenntnisverfahrens sollen der Prozessbeschleunigung dienen und würden ihren Sinn verlieren, wenn der Schuldner die zunächst ausgeschlossenen Tatsachen oder Verteidigungsmittel dann in der Zwangsvollstreckung doch noch geltend machen dürfte[31]. In Beispiel 23 wird S also mit der Vollstreckungsabwehrklage keinen Erfolg haben.
Hinweis:
Wissen sollte man auch, wie sich die Aufrechnung in einem solchen Fall materiell-rechtlich auswirkt. Immerhin hat S sie materiell-rechtlich wirksam erklärt[32]. Jedoch wird allgemein angenommen, dass die fehlgeschlagene Prozessaufrechnung dazu führt, dass auch die Wirkung des § 389 BGB nicht eintritt und die Gegenforderung somit bestehen bleibt.
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Wenn die Vollstreckungsabwehrklage damit begründet wird, dass der Anspruch durch Aufrechnung mit einer rechtswegfremden Gegenforderung erfolgt ist, kommt es auch im Rahmen des § 767 ZPO zu dem bekannten Streit, wie in solchen Verfahren vorzugehen ist, und ob das Gericht nach § 17 II 1 GVG auch über die Gegenforderung entscheiden darf[33].
cc) Andere Sonderfälle
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Zu dem grundlegenden Streit über den relevanten Bezugspunkt bei Gestaltungsrechten kommt hinzu, dass nach allgemeiner Ansicht auch nach der Art des Gestaltungsrechts differenziert werden muss.
Beispiel 24 (Verbraucherschützendes Widerrufsrecht):
Schuldner S hat im Internet einen Fernseher gekauft. Eine Widerrufsbelehrung wurde ihm dabei nicht erteilt. Da er den Apparat nicht bezahlen kann, ergehen gegen ihn Mahn- und Vollstreckungsbescheide. Erst jetzt erfährt er, dass man Verträge, die man im Internet abgeschlossen hat, widerrufen kann. Er widerruft den Kaufvertrag nach §§ 312g I, 355 BGB und will gegen die Vollstreckung vorgehen.
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Da S in Beispiel 24 nicht über sein Widerrufsrecht belehrt wurde, war dies in der Tat nach § 356 III 1 BGB noch nicht verfristet. Er konnte es also noch wirksam ausüben. Fraglich ist aber, ob er nach § 767 II ZPO mit dem Einwand, der Anspruch sei nach § 355 I 1 BGB erloschen, präkludiert ist. Bei verbraucherschützenden Gestaltungsrechten (z.B. Widerruf) zwingt schon das europäische Richtlinienrecht dazu, § 767 II ZPO unangewendet zu lassen[34]. Denn der EuGH hat bereits mehrfach entschieden, dass das nationale Recht nicht Fristen abschneiden darf, die die Richtlinien vorsehen[35]. Und das Widerrufsrecht läuft in Fällen fehlender Belehrung nach den meisten verbraucherschützenden Richtlinien unbefristet.
Klausurhinweis:
In Beispiel 24 führen also letztlich sogar alle Ansichten zu demselben Ergebnis. Man sollte in der Klausur den Streit dennoch gründlich darstellen – und am besten sogar entscheiden – bevor man unter Verweis auf die richtlinienkonforme