seine erste Tochter geboren wurde, fuhr Aram einen der Wagen in der großen Parade zum 20-jährigen Parkjubiläum. Ein Großereignis, bei dem absolut niemand vom Personal entbehrt werden konnte. Während wir kostümiert um den Wagen tanzten, auf dem ein überdimensionaler Plastikrabe durch das Stadttor von Corona schritt, wartete Aram im Dunkeln unter der Konstruktion darauf, dass er endlich zu seinem Handy im Pausenraum laufen konnte. Die Geburt seiner zweiten Tochter verbrachte er im Ticketschalter vor dem Corona Kinderkarussell. Auch hier hatte Bellmore darauf bestanden, dass er bleibt. Keiner durfte Arams Schicht übernehmen. Private Telefonate sind untersagt. Und was der König befiehlt, haben wir zu befolgen.
Bellmore verdoppelt den Preis von Regenschirmen in den Shops, sobald dunkle Wolken aufziehen. Er erhöht erst den Salzgehalt in den Pommes und dann den Preis aller Getränke. Je tiefer man in den Park gelangt, umso weiter steigt der Wechselkurs für das Geldtauschen. Je heftiger eine Attraktion ist, umso teurer ist der Eintrittspreis für die Toiletten daneben. Die vielen Lichter, Farben und die konstante Musik sorgen dafür, dass man nicht in Ruhe zählen kann, wie viel man bereits ausgegeben hat.
Bunte Parkwährung liegt auf dem Boden verteilt, Kuscheltiere, auslaufende Pappbecher. Aram hat inzwischen seine Handschuhe abgeworfen und wählt auf einem ergatterten Telefon die Nummer seiner Freundin. Die meisten, die Frosch vorher zugejubelt haben, widmen sich den übrigen Figuren, die Sonja an das andere Ende des Platzes geführt hat. Hinzugekommene Angestellte entschuldigen sich für den Vorfall und verteilen Gutscheine für Pizza und Souvenirs.
»Ich will nur wissen, ob es ihr gut geht«, murmelt Aram, dann betreten drei Männer der Parksicherheit den Platz. Er hält das Handy an seinen ewig lächelnden Tierkopf. Die eigentliche Besitzerin wartet mit verschränkten Armen, bis die Wachmänner den Frosch umzingelt haben. Er versucht zu fliehen und wird sofort gefasst, strampelt sinnlos mit den Beinen und verliert im Gerangel den Kopf. Ein paar Jugendliche nutzen die Gelegenheit für Fotos, doch die meisten Leute im Umkreis sehen automatisch weg. Die Leute wollen nicht wissen, wer unter den Masken steckt. Was hinter den Fassaden lauert. Ein drolliger fiktiver Frosch ist ihnen lieber als ein verzweifelter echter Mann, der es nicht ertragen kann, die Geburt seines ersten Sohnes zu verpassen.
Auch ich sehe nur die Hälfte, weil ich weiter Neuankömmlinge begrüßen muss. Ich erkläre ihnen, für welche Attraktionen sie mit dem Armband Vergünstigungen erhalten. Ich zeige ihnen auf dem Faltplan, wo sie gerade sind. Dann rollt mir etwas gegen mein Bein.
Es ist der Kopf des Froschkostüms. Die Wachmänner haben Aram fest im Griff, das Handy ist wieder bei der Besitzerin. Mit einer Gratis-Schirmmütze verschwindet sie im Park.
Bevor die nächsten zu Begrüßenden durch den Eingang kommen, hebe ich den Froschkopf auf. Ich unterdrücke ein Würgen, als mir der Gestank aus dem Innern entgegenschlägt, dann laufe ich zu Aram und den Sicherheitsmännern. Sie bewegen sich so schnell, wie es die Parkordnung erlaubt, in Richtung der nächsten geheimen Tür zum Personalbereich. Mein Freund zwischen ihnen ist in sich zusammengesunken, ohne Widerstand lässt er sich mitschleifen. Auch wenn niemand hinschaut, muss sein Gesicht verdeckt werden. Die Kostümierten müssen anonym bleiben. Sobald ich die Gruppe erreiche, stülpe ich ihm den Froschkopf über.
Ich bleibe stehen und atme durch. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Kopf schief sitzt. Das versteckte Sichtfenster befindet sich an Arams Ohr. Er kann nicht sehen, wie andere Angestellte die verstreuten Essensreste und Spielzeuge aufsammeln. Wie die Kundschaft schon wieder herumläuft, als wäre nichts geschehen. Wie am schönsten Ort der Welt ein weiterer sonniger Tag beginnt.
Blind unter drei Kilo Schaumstoff und Fiberglas wird er abgeführt.
3
Noch bevor das erste Rabe-Buch mir zum besten Freund meiner Kindheit verhalf, sorgte es dafür, dass ich mir beide Beine brach.
Das Cover des Buchs zeigt den Vogel auf einem Ast, am rechten Rand ist noch der Baum dazu zu sehen. Hinter dem Raben, kreisrund in der Mitte des Covers, strahlt die Sonne. Rabes Flügel sind gespreizt. Er sieht glücklich aus.
Als ich Rabe im Wald kennenlernte, gab es noch keine Fortsetzungen. Kein internationales Franchise mit Vergnügungspark, Filmen und Tausenden von Spielzeugen. Alles, was die Kinder aus der Nachbarschaft und ich hatten, war die eine Geschichte des kleinen Raben, der durch Zufall die Stadt Corona findet und sich mit den Waldtieren anfreundet, die dort leben.
Wir bastelten Kostüme aus Pappkartons und erfanden neue Abenteuer für die Tiere, die bereits im ersten Band auftauchen. Fuchs und Frosch, Bär und Specht, Hase und Eichhörnchen. Und Rabe natürlich. Dass im Buch nichts Spannendes passiert, hielt uns nicht davon ab, uns Geschichten auszudenken und sie immer wieder nachzustellen. Tagsüber im Kindergarten, abends dann in den heimischen Gärten, bis es dunkel wurde und unsere Eltern uns nach Hause zurückholten. Wir malten die Bilder ab und bettelten jeden Abend darum, dass uns die Geschichte noch mal vorgelesen wird.
Wir waren ein Fanclub, ohne es zu wissen. Ein Kult, ohne überhaupt daran zu denken, dass es jemanden gab, der all das geschrieben hatte. Unsere heilige Schrift war 28 Seiten lang und durchgehend vierfarbig illustriert.
In dem Jahr, in dem der Bau des Parks begann, verbrachten wir den Sommer damit, im Wald über Bäche zu springen, nach echten Exemplaren der Tiere aus dem Buch Ausschau zu halten und auf Bäume zu klettern, um wie der Rabe auf dem Cover vor der Sonne die Schwingen auszubreiten. Meine Mutter half mir, Flügel aus Karton auszuschneiden und Griffe für meine Arme anzukleben. Mein Vater besorgte die Farbe, um das Gebastelte schwarz anzumalen. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass ich wirklich versuchen würde zu fliegen, doch das nächste Mal, dass ich mit den anderen Kindern unterwegs war, suchten wir gemeinsam den höchsten Baum in der Nachbarschaft.
Noah war zu diesem Zeitpunkt noch einer unter vielen, nur eines von Dutzenden Kindern, die manchmal beim Spielen dabei waren und manchmal nicht. Heute hängen die Fotos von unseren Parkausflügen noch immer am Kühlschrank, doch damals wusste ich wahrscheinlich nicht einmal seinen Namen. Dass wir Fans desselben Buchs waren, genügte als Gemeinsamkeit. Unsere Eltern verband, dass sie Abend für Abend dieselbe Geschichte vorlesen mussten.
Rabe im Wald beginnt damit, dass ein einsamer kleiner Rabe orientierungslos im Wald umherirrt. Man erfährt nicht, woher er kommt, aber schon die erste Begegnung zeigt, dass er noch nie ein anderes Tier getroffen hat. Als er an einem Teich einen Frosch sieht, begreift er nicht, dass zwei Tiere im selben Wald so unterschiedlich aussehen können. Trotzdem freunden beide sich an, und schon bald wird Rabe nach Corona eingeladen – eine kreisrunde Stadt auf einer Lichtung, in der es niemals dunkel wird.
Meine Mutter erklärte mir damals, was das Wort bedeutet: Strahlenkranz. Ein Name für den leuchtenden Ring, den man während einer Sonnenfinsternis sehen kann. Für goldene Kronen mit abstehenden Zacken oder einen Heiligenschein. Rund und strahlend, in alle Richtungen. Natürlich ist die Corona auch Teil der Sonne selbst.
Sie stand hoch am Himmel, als sich die Kinder um den Baum versammelten, den wir ausgesucht hatten. Ich schnallte mir meinen Schnabel um, einen gelb angemalten Plastikbecher mit Gummiband, und fing an zu klettern. Meine Spielkameraden errichteten indessen einen Haufen aus trockenem Gras und Buschwerk, auf dem ich landen sollte. Schnell waren sie nur noch farbige Flecken am Waldboden. Grüne Frösche, orange Füchse, braune Bären und Hasen, wild mit den Armen wedelnd, während ich immer höher stieg. Ich rutschte auf einen Ast und sah in Richtung Sonne.
Das Gute ist, wenn man in so einem Moment geblendet wird, muss man nicht sein bisheriges Leben an seinem Auge vorbeiziehen sehen. Das Schlechte ist, dass man so auch nur eingeschränkt in der Lage ist, die Landung zu zielen.
Trotzdem breitete ich die Flügel aus. Und sprang.
In den Jahren danach haben Noah und ich alle Attraktionen des Parks kennengelernt, vom Käfer-Chaos-Autoscooter bis hin zur gewaltigen Lunaphobia, doch der Adrenalinrausch war nie größer als bei meinem ersten freien Fall.
Ich landete auf den Füßen, rammte mir das Gesicht gegen die Knie und rollte auf die Seite. In meiner Erinnerung schreien nur die anderen Kinder, die meisten liefen sofort davon. Eine Sekunde, zwei, drei, dann bemerkte ich den Knochen, der aus meinem linken Bein