Tino Falke

Crow Kingdom


Скачать книгу

hat sein Dienstlächeln schon wieder abgelegt und schraubt weiter. Als Mechaniker hat er nur diese eine Schicht, Reparatur und Wartung, Tag für Tag, und irgendwas ist immer kaputt oder muss geölt, nachjustiert, neu kalibriert werden. Während er den Grund dafür sucht, dass das Karussell einfach aufgehört hat, sich zu drehen, erzählt er weiter von der einen Attraktion, die man nicht mit Werkzeug und einer Ingenieursausbildung davon abhalten kann, Kinder zu verletzen oder zu töten.

      Einen Dreijährigen im Indoor-Spielplatz Hoppin’ Houses zum Beispiel. 2007 in Washington von herumspringenden Erwachsenen zerdrückt.

      Einen Fünfjährigen im kroatischen Magic City-Parkour mit aufblasbaren Hindernissen, Kletternetzen und Ballgruben. 2010 von Seilen stranguliert.

      Dutzende, vielleicht Hunderte, die von der aufblasbaren Titanic-Rutsche gefallen sind – in Kanada, Schottland, Spanien und unzählige weitere Male überall auf der Welt. Donnie muss lachen, als er einmal mehr davon erzählt.

      »Eine der größten Katastrophen der Schifffahrt als Vorbild für die vielleicht gefährlichste Attraktion, die es gibt. Als bräuchten Vergnügungsparks noch weitere Erinnerungen daran, dass man in ihnen ihr Leben riskiert!«

      Und der nächste Lunaphobia-Zug schießt an uns vorbei.

      Es sind keine anderen Menschen in Sichtweite, also neige ich meinen riesigen Rabenkopf in Donnies Richtung und erinnere ihn daran, dass so etwas hier nie passiert ist. Die Hüpfburg, die einst angeschafft wurde, ist nie aufgestellt worden. Unsere Paintball-Arena wurde aufgrund von Sicherheitsbedenken doch nicht eröffnet. Corona Kingdom ist seit der Eröffnung absolut unfallfrei. Das hier ist nicht Avalanche Rocks.

      Donnie schnaubt verächtlich und will etwas erwidern, da bleibt sein Blick in der Ferne hängen. Ich drehe mich um und sehe, was ihn zum Schweigen bringt. Jasper Bellmore wagt sich einmal mehr aus seinem Büro hoch über dem Park und spaziert inmitten der Kundschaft umher. Zeit, die perfekte Mitarbeiterin zu geben.

      Ich schlendere die Straße entlang, als hätte ich nicht die letzte Stunde neben Donnie rumgestanden und gehofft, es würde niemand vorbeikommen. Wenn Bellmore eine seiner Erkundungstouren durch sein Königreich macht, müssen wir uns alle von unserer besten Seite zeigen. Wenn er mitbekommt, dass eine seiner Regeln nicht eingehalten wird, sind uns Überstunden, Zusatzaufgaben und die unbeliebtesten Schichten sicher. Niemand wird jemals entlassen. Wir sind eingesperrte Tiere. Wie die Raben im Tower of London, deren Flügel gestutzt werden, weil Großbritannien untergeht, wenn sie je davonfliegen. Selbst Aram musste nicht gehen, nachdem er am Sonnentor für Aufruhr gesorgt hat. Stattdessen darf er die nächsten Wochen das Unkraut aus den Fugen in den Gehwegen kratzen. Nachts natürlich, damit keiner sieht, welche Verhältnisse hier herrschen.

      Es ist nicht so, als hätte nie jemand versucht, einfach zu gehen. Bellmore hat sich nur gegen jede Eventualität vertraglich abgesichert. Er bürgt für die meisten Häuser und Wohnungen seiner Angestellten. Viele von uns könnten obdachlos werden, wenn wir kündigen. Er hat das Recht, unser Gehalt zu kürzen, wenn der Park wegen Streiks der Belegschaft weniger einnimmt. Er hat genügend Kontakte zur Presse, dass er jeden Versuch, die Öffentlichkeit auf die Missstände aufmerksam zu machen, verhindern kann, bevor auch nur ein Wort gedruckt wird. Mit alldem im Hinterkopf werden die Schichten, in denen man nicht lächeln muss, noch mal angenehmer.

      Ich gebe ein paar Autogramme auf Rabe-Büchern, Lageplänen und frisch gedruckten Fotos von Achterbahnfahrten. Bellmore streift indessen mit dem Finger über die Rückenlehne einer Bank am Wegrand und betrachtet seine Fingerkuppe.

      Wie weit ich auch gehe, neben mir erstreckt sich weiter Lunaphobia. Die violette Stahlkonstruktion ist von jedem Punkt des Geländes aus zu sehen. Die Schreie aus den Zügen hallen bis auf die Parkplätze vor dem Eingang. Die kolossale Achterbahn ist die bekannteste Attraktion des Parks und hält mehrere Weltrekorde. Größer als Kingda Ka in New Jersey. Schneller als Formula Rossa in Abu Dhabi. Drei Loopings und unzählige steile Abfahrten sorgen dafür, dass wir nach Feierabend nicht nur Mützen und Stifte zwischen den Stützpfeilern finden, sondern auch ein Best-of des gastronomischen Angebots des Tages.

      Und unser Feiertagsbonus besteht aus Gutscheinen für Burger und Orangen-Coronade.

      Ich umarme ein kleines Mädchen, zwischen dessen Fingern irgendeine neue Köstlichkeit des Parks auf den Boden trieft, dann steht mir plötzlich Bellmore gegenüber. Durch den Schnabel des Kostüms sehe ich nur seinen Anzug und seine Krawatte.

      »Sei gegrüßt, Rabe«, sagt er. »Ist es nicht herrlich in der Sonne? Ein Tag, den man einfach im Freien verbringen muss!«

      Dass in seiner Stimme keinerlei Freude mitklingt, liegt vor allem daran, dass ihm das Wetter egal ist. Bellmore benutzt verschlüsselte Sätze, um uns Anweisungen zu geben, ohne dass die Kundschaft es mitkriegt. Ich muss unweigerlich an meine Eltern denken. Zwischen den Zeilen gibt er mir zu verstehen, dass ich mich mehr auf den größeren Plätzen im Park aufhalten soll. Die Hauptfigur soll nicht nur zu sehen sein, wenn man zufällig am defekten Karussell vorbeispaziert.

      Ich nicke und breite die Flügel aus. Das heißt: Verstanden. Das heißt: Ich mache mich sofort auf den Weg. Würde ich mit Worten reagieren, wäre mir zumindest eine Ermahnung sicher. Ohne eine weitere Bemerkung spaziert der alte Mann weiter. Während er auf Donnie zugeht, nähern sich die Fahrgäste auf Lunaphobia dem höchsten Punkt der Strecke. Am Ende des Lifthills erwartet sie ein 90°-Drop 130 Meter in die Tiefe.

      »Ich will hier raus!«, schreit irgendein Kind, dann vereinen sich alle Stimmen zu einem weiteren Kreischkonzert.

      Mein Weg führt mich bis an den Ausgang der Achterbahn. In wenigen Minuten werden zwei Dutzend Benommene aus der Station strömen, schwindelig von den g-Kräften der Fahrt, euphorisch vom Adrenalin und den Endorphinen, die ihre Körper in Antwort auf das intensive Erlebnis ausgeschüttet haben. Die Hälfte der Leute wird zum Stand neben dem Ausgang pilgern, wo auf großen Bildschirmen die Fotos ihrer Fahrt angezeigt werden, die sie dann bei Sonja kaufen können. Vorerst ist nur ein Gast bei ihr. Er wedelt mit einem Lageplan des Parks.

      »Aber wie soll ich wissen, wo ich bin, wenn kein Pfeil mir meinen Standort anzeigt?«

      »Es tut mir sehr leid«, antwortet sie lächelnd. »Derzeit können wir dieses Feature auf unseren Papierbroschüren leider noch nicht anbieten. Wenn Sie Abonnent unseres Newsletters sind, werden Sie natürlich informiert, sobald unsere Druckerei diese Möglichkeit bereitstellt.«

      »Das hoffe ich doch!«, ruft er und stürmt davon. Ich nehme seinen Platz ein.

      »Ein weiterer Kunde befriedigt«, sagt sie, wieder mit ihrer tieferen, normalen Stimme. »Und was kann ich für dich tun? Willst du ein Foto kaufen? Heute im Angebot: Kinder, die gerade so das Mindestalter und die Größenbeschränkung erfüllen und jetzt um ihr Leben fürchten, und junge Gentlemen, die sich den Mund zuhalten, um nicht ihre Begleitung vollzuspeien.«

      Ich bestelle eine gelangweilte Blondine, die nach ihrer Schicht Zeit für einen gemeinsamen Abend hat, und ernte ein Lächeln. Sie streicht ihr Haar hinters Ohr, und ich sehe all die Löcher, in denen sie sonst ihre Ohrringe trägt. Bellmore verbietet uns Piercings jeglicher Art. Sonjas Tattoos müssen komplett verdeckt sein. Donnies Haarlänge ist hart an der Grenze für männliche Mitarbeiter. Auch er gesellt sich an den Fotostand. Seinen Werkzeugkasten stellt er auf den Boden. Offenbar ist das Karussell repariert.

      »Ein Teenager in Texas hat 2009 versucht, in einer Hüpfburg einen Salto rückwärts zu machen«, sagt er. »Ist auf dem Kopf gelandet und war monatelang gelähmt.«

      »Einer hat seinen Hund mit reingeschmuggelt«, sagt Sonja mit Blick auf die Bildschirme um sich herum. Dann scheinen beide Kundschaft zu sehen, in der Ferne, außerhalb meines Sichtfelds. Sie lächeln. Aus den Lautsprechern ertönt die dritte Strophe der Parkhymne.

       Im hellen Schein, da liegt das Glück!

      Sagst du Lebwohl, komm bald zurück!

      Im Herzen trägst auch du ein Stück

      Vom Königreich Corona!

      »Ich hasse diesen Ort«, sagt Donnie leise.

      »Das