Tino Falke

Crow Kingdom


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Rabe-Bücher erschienen, und der Park wurde um weitere Attraktionen erweitert. Noah und ich fuhren sie alle. Wir warfen die Arme in die Luft und verloren den Inhalt unserer Jackentaschen, wir übergaben uns und stellten uns noch mal an. Und seitdem man Fotos von sich während der Fahrt kaufen konnte, sammelten sich unzählige Bilder von uns an den Kühlschränken unserer Eltern.

      Abwärts rasend am Ende von Eulenflug.

      Abwärts rasend nach dem ersten Lunaphobia-Looping.

      Mit weit aufgerissenen Augen, schreiend, lachend, jedes Bild einmal in meiner Küche und einmal in Noahs. Wer uns aufwachsen sehen wollte, fand hier alles auf einen Blick.

      Und je länger wir den Park erkundeten, umso mehr gab es zu entdecken. Wir sahen frei laufende Wildkatzen hinter Büschen und im Schatten unter den Fahrgeschäften. Wir bemerkten, wohin die Angestellten verschwanden, wenn Paraden vorbei waren oder nachdem sie Müll aufgesammelt hatten. Heimlich folgten wir den Kostümierten. Hinter ein paar Dekobäumen fanden wir den Eingang zu einem System von Tunneln unter dem Park. Am Eingang, gerade so sichtbar durch eine halb offene Tür, standen Hase und Bär. Ihre großen Köpfe lagen auf dem Boden, aus den flauschigen Tierkörpern ragten kleine Menschenköpfe. Sie führten Zigaretten an den Mund und bliesen den Rauch durch den Türspalt in den Park hinaus.

      Mir war schon lange klar gewesen, dass es sich bei den Figuren nicht wirklich um riesige Tiere handelte, doch bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich sie einfach hingenommen. Die Magie von Vergnügungsparks. Jetzt standen zwei von ihnen vor mir, in ihrem Innern echte Menschen wie Noah und ich.

      Die Mitarbeiterin im Hasenkostüm lachte über irgendeine Bemerkung ihres Kollegen, dann fiel ihr Blick auf uns. Mit geweiteten Augen knallte sie die Tür ins Schloss. Inzwischen weiß ich: Wenn Bellmore erfahren hätte, dass eine Darstellerin unzureichend kostümiert von einer Besucherin gesehen worden war, wäre ihr die nächste Woche die Reinigungsschicht sicher gewesen. Die Kundschaft soll nicht daran erinnert werden, dass im Park auch jenseits der Kassen und Restaurants nur Menschen arbeiten. Das Wichtigste ist, die Magie aufrechtzuerhalten.

      Für mich hat der kurze Blick hinter die Kulissen nichts zerstört, im Gegenteil. Mein Lieblingsort auf der ganzen Welt war genauso toll wie zuvor. Nur dass man dort auch arbeiten konnte, eröffnete ganz neue Möglichkeiten. Und nicht nur als Bär oder Hase, da war ich mir sicher. Ich hatte meinen Traumberuf gefunden. Wann auch immer Erwachsene in den nächsten Jahren mich fragten, meine Antwort war klar.

      Wenn ich groß bin, will ich Rabe werden.

      4

      Wir stehen im Schatten der gewaltigen Lunaphobia, und während neben uns ein Zug mit zwei Dutzend Fahrgästen durch einen Looping rauscht, dreht sich Donnie in meine Richtung und öffnet den Mund. Er wartet, bis die Schreienden weitergefahren sind, doch mir ist schon jetzt klar, was er sagen will.

      »Weißt du, wieso es hier keine Hüpfburgen gibt?«

      Ich weiß es, aber ich kann nicht antworten, weil Kundschaft an uns vorbeispaziert. Eine Gruppe kleiner Mädchen in neu gekauften Raben- und Schwanenkleidern und passenden Plastikmasken winkt mir zu, und ich winke zurück, dann verschwinden sie im nächsten Fast-Food-Restaurant.

      »Aufblasbare Attraktionen haben die höchste Unfallrate überhaupt«, sagt Donnie und wühlt in seinem Werkzeugkasten. »Die Leute haben Angst, dass ihre Achterbahn entgleist oder sie aus der Schiffschaukel fallen, aber nirgends verletzen sich so viele Menschen wie in Hüpfburgen.«

      Ich kenne all die Beispiele, doch solange ich das Rabenkostüm trage, muss ich in Anwesenheit der Kundschaft stumm sein. Wir befinden uns hinter Lunaphobia, am Eingang des Corona Kinderkarussells, wo nachmittags nur noch wenige Leute hinfinden, trotzdem darf aus dem Kostüm keine Stimme zu hören sein. Ein fremder Akzent könnte die Leute verunsichern. Eine Stimme, die nicht zum dargestellten Tier passt, könnte die ganze Illusion zerstören. Das Gute ist, dass man so auch nicht auf irgendwelche Fragen antworten muss.

      Donnie trägt die Uniform des Parkpersonals, schwarz mit gelbem Saum an Ärmeln und Kragen. Auf seinem Rücken prangt das Parklogo. Er kann nichts dagegen tun, dass er immer wieder angesprochen wird.

      »Wo finde ich denn das Dornröschenschloss?«, fragt ein rundlicher Mann in einem »Hard Rock Café Corona«-Shirt. Donnie klärt ihn darüber auf, dass er sich vermutlich im falschen Park befindet, dann wendet er sich wieder an mich.

      »Jedes Jahr fliegen aufblasbare Attraktionen davon, weil sie nicht ordnungsgemäß befestigt wurden. 1986 wurden 13 Leute verletzt und eine Neunjährige getötet, als eine Hüpfburg in Wyoming gegen ein anderes Fahrgeschäft flog. 2007 segelte auf Hawaii eine Hüpfburg fast zehn Meter in die Luft und landete 50 Meter entfernt im Meer. Die Kinder darin waren zwei und fünf Jahre alt.«

      Bevor er sagen kann, dass die Kinder gerettet wurden und überlebt haben, nähert sich der nächste Lunaphobia-Zug. Donnie widmet sich wieder den Reparaturarbeiten am Karussell. Ich neige mich zurück, um durch den Schnabel des Rabenkopfs nach oben zu sehen. Der Zug rauscht durch den Looping, die Gäste schreien aus Freude, aus Angst, aus Gewohnheit, und während sie mit 80 km/h um die nächste Kurve verschwinden, segeln unbemerkt ihre Habseligkeiten in die Tiefe. Handys und Schlüssel, Brillen und Parkgeld – sobald die Pforten wieder geschlossen sind, dürfen wir unter allen Attraktionen aufsammeln, was die Kundschaft verloren hat und schon bald vermissen wird.

      Donnie wischt sich das schwarze Haar aus der Stirn und grinst mich an.

      »Ich weiß genau, was du denkst«, sagt er. »Aber du hast schon letztes Mal alle Schokosonnen bekommen, die wir gefunden haben. Und die Tüte Gummiraben! Heute bin ich an der Reihe!«

      Dass hier immer die Sonne scheint, heißt nicht, dass es nicht täglich Süßigkeiten regnet.

      »2001 wurde eine Hüpfburg in Form einer Giraffe von einem Wirbelwind davongetragen«, fährt er fort, als wäre nichts gewesen. »In Australien war das. Ein Todesopfer, 15 Verletzte. In Ungarn flog 2007 eine Hüpfburg 30 Meter weit, prallte gegen einen Zaun und tötete einen achtjährigen Jungen.«

      Während Donnie weitere Unfallopfer aufzählt, beginne ich zu tanzen. Die Leute sollen unterhalten werden. Wenn ich das Kostüm trage, kann ich nicht einfach regungslos rumstehen, es muss immer etwas geboten werden. Eine Gruppe junger Männer kommt die Straße entlang und kann nicht anders, als sich mir anzuschließen. Sie lachen und nehmen mich in ihre Mitte, grinsen für ein Foto und sind auch schon auf dem Weg zur nächsten Attraktion. Für den Fall, dass Bellmore vorbeikommt, gehe ich ein paar Schritte auf und ab. Wer morgens die Neuankömmlinge begrüßt, soll sich den Rest des Tages frei im Park bewegen und dafür sorgen, dass die Kundschaft gut gelaunt bleibt. Trotz des heißen, schweren Kostüms ist es eine der angenehmeren Schichten. Immerhin muss man nicht lächeln.

      Eine ältere Dame macht ein Bild von mir, dann geht sie auf Donnie zu.

      »Entschuldigen Sie, junger Mann, arbeiten Sie hier?«

      »Was hat mich verraten?«, sagt er und steht auf. »Es war mein strahlendes Lächeln, oder? Wie kann ich Ihnen helfen?«

      »Können Sie mir sagen, wann die Halloweenparade beginnt?«

      Er schaut auf seine Armbanduhr, dann wieder in das Gesicht der Frau. Soweit ich es beurteilen kann, hält er alle von Bellmores Regeln ein. Wenn ein Gast uns etwas fragt, müssen wir ihm direkt in die Augen sehen. Für ein Gespräch mit Kindern müssen wir auf ein Knie gehen. Jede noch so dumme Frage muss ernst genommen und mit einem Lächeln beantwortet werden.

      »Nun, es ist April, also würde ich sagen, Sie haben vor der Parade noch etwa ein halbes Jahr, um all unsere anderen Attraktionen zu genießen.«

      Er lacht, und für einen Moment hört man nur das Rattern und Kreischen der Achterbahn neben uns. Dann lacht auch die Besucherin. Sie bedankt sich und verschwindet in Richtung Geisterhaus. Vielleicht wird sie unserem König Bericht erstatten, ob Donnie alles richtig gemacht hat – wir müssen immer damit rechnen, dass wir es mit Bellmores Schatten zu tun haben, mit getarnten Angestellten, die heimlich für ihn testen sollen, ob unsere Interaktion mit der Kundschaft zufriedenstellend ist. Mystery Shopping, um zu prüfen,