dar, so dass für diese Normen ggf. auch unionsrechtliche Auslegungsgrenzen in Betracht kommen können. Diese Grenzen bestehen zum einen in den Allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Union: dem Vertrauensschutz, der Rechtssicherheit, dem Bestimmtheitsgrundsatz oder dem Rückwirkungsverbot. Zum anderen sind sie in dem Verbot einer sog. horizontalen Direktwirkung von umsetzungsbedürftigen Rechtsakten (z.B. einer Richtlinie) zu sehen.
235
Gleichwohl stellen die unionsrechtlichen Auslegungsgrenzen – anders als die nationalen Grenzen – für den mitgliedstaatlichen Richter keine absoluten Auslegungsgrenzen dar. Würde eine unionsrechtskonforme Auslegung gegen die unionsrechtlichen Grenzen verstoßen, bestünde die rechtliche Folge vielmehr allein darin, dass der Richter von seiner grundsätzlichen Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung befreit würde. Allerdings bliebe ihm weiterhin die Möglichkeit, eine nationale Vorschrift unionsrechtskonform auszulegen, wenn dieses Ergebnis von den absoluten Auslegungsgrenzen des jeweiligen Mitgliedstaates gedeckt wäre. Dementsprechend können die Grenzen des Unionsrechts als relative Auslegungsgrenzen des nationalen Richters bezüglich der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung bezeichnet werden.
A › Auslegung des nationalen Rechts (Nico S. Schmidt) › II. Grenzen der Auslegungszuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte
II. Grenzen der Auslegungszuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte
236
Die Kompetenz der mitgliedstaatlichen Gerichte zur Auslegung des nationalen Rechts kann grundsätzlich nicht durch das Unionsrecht eingeschränkt werden. Gleichwohl kann die Interpretation mitgliedstaatlicher Normen die Auslegung unionsrechtlicher Normen erforderlich machen. Mit der Auslegung der Normen des EU-Rechts ist jedoch nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV der Gerichtshof der EU betraut. Die insoweit erfolgte notwendige Verzahnung zwischen unionsrechtlicher und mitgliedstaatlicher Rechtsprechung wird in dem Begriff zum → Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV dargestellt.
A › Ausschluss (aus der EU) (Matthias Knauff)
Ausschluss (aus der EU) (Matthias Knauff)
II.Europarecht238 – 240
III.Völkerrecht241 – 243
Lit.:
F. Götting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000; D. Hanschel, Der Rechtsrahmen für den Beitritt, Austritt und Ausschluss zu bzw. aus der Europäischen Union und Währungsunion –Hochzeit und Scheidung à la Lissabon, NVwZ 31 (2012), 995; G. Meier, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft, NJW 27 (1974), 391; A. Puttler, Sind die Mitgliedstaaten noch „Herren“ der EU? – Stellung und Einfluss der Mitgliedstaaten nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages der Regierungskonferenz, EuR 39 (2004), 669; S. Schmahl, Die Reaktionen auf den Einzug der Freiheitlichen Partei Österreichs in das österreichische Regierungskabinett – Eine europa- und völkerrechtliche Analyse, EuR 35 (2000), 819; J. Zeh, Recht auf Austritt, ZEuS 7 (2004), 173.
A › Ausschluss (aus der EU) (Matthias Knauff) › I. Allgemeines
I. Allgemeines
237
Die Frage nach der Möglichkeit des Ausschlusses eines Mitgliedstaates aus der EU gegen dessen Willen hat bislang keine praktische Bedeutung erlangt. Gleichwohl wird sie vor dem Hintergrund problematischer Entwicklungen in einzelnen EU-Mitgliedstaaten gelegentlich thematisiert. Für ihre Beantwortung sind sowohl das Europa- als auch das Völkerrecht von Bedeutung.
A › Ausschluss (aus der EU) (Matthias Knauff) › II. Europarecht
II. Europarecht
238
Das → Primärrecht der EU enthält keine Regelungen über den Ausschluss eines Mitgliedstaates. Insbesondere ermächtigt die an eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundwerte der EU i.S.v. Art. 2 EUV anknüpfende Regelung über die Suspendierung der Mitgliedschaftsrechte in Art. 7 Abs. 3 EUV nicht zu einem Ausschluss des betreffenden Mitgliedstaates aus der EU.
239
Hieraus ist zugleich die europarechtliche Wertung zu entnehmen, dass die umstrittene Möglichkeit des Ausschlusses eines Mitgliedstaates aus der EU auf völkerrechtlicher Grundlage allenfalls bei noch schwerwiegenderen Verletzungen des Europarechts in Betracht kommt und (mindestens) die Verfahrenserfordernisse des Art. 7 Abs. 3 EUV beachtet sein müssen.
240
Ein Ausschluss im Wege der → Vertragsänderung kommt wegen der notwendigen Zustimmung des betreffenden Mitgliedstaates nicht in Betracht. Schließlich ist auch ein Gegenschluss aus der Existenz der Regelungen über den im Ermessen jedes einzelnen Mitgliedstaats stehenden → Austritt (aus der EU), Art. 50 EUV, nicht geeignet, ein europarechtlich verankertes Ausschlussrecht zu Lasten eines Mitgliedstaates durch die übrigen Mitgliedstaaten zu begründen.
A › Ausschluss (aus der EU) (Matthias Knauff) › III. Völkerrecht
III. Völkerrecht
241
Ob der Ausschluss eines Mitgliedstaates aus der EU auf völkerrechtlicher Grundlage erfolgen kann, ist abhängig davon, ob Art. 7 EUV i.V.m. Art. 354 AEUV als abschließende Regelungen in Bezug auf gravierende Verstöße und das Europarecht diesbezüglich als self-contained régime zu qualifizieren sind. Sofern dies in der Literatur vereinzelt bejaht wird, kommt ein Ausschluss nicht in Betracht. Nach h.M. kommt den genannten Vertragsbestimmungen jedoch kein abschließender Charakter zu; vielmehr werde durch die unterbliebene Regelung des Ausschlusses gerade der Rückgriff auf das allgemeine Völkervertragsrecht ermöglicht, welches auf die EU-Gründungsverträge im Hinblick auf deren Charakter als völkerrechtliche Verträge grundsätzlich anwendbar ist.
242
Die Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) enthält für den Fall des Fehlens vorrangiger spezieller Vertragsvereinbarungen mögliche Grundlagen für einen Ausschluss. Nach Art. 60 Abs. 2 WVRK berechtigt „[e]ine erhebliche Verletzung eines mehrseitigen Vertrags durch eine Vertragspartei a) [...] die anderen Vertragsparteien, einvernehmlich den Vertrag