275
III.Austrittsverfahren276 – 281
IV.Konsequenzen282 – 284
Lit.:
T. Bruha/C. Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? – Anmerkungen zu Artikel I-59 des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, AVR 42 (2004), 1; K. Doehring, Einseitiger Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft, FS für H. Schiedermair, 2001, 695; M.-T. Gold, Voraussetzungen des freiwilligen Austritts aus der Union nach Art. I-60 Verfassungsvertrag, in: M. Niedobitek/S. Ruth (Hrsg.), Die neue Union – Beiträge zum Verfassungsvertrag, 2007, 55; F. Götting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000; C. Heber, Die Kompetenzverteilung im Rahmen der Austrittsverhandlungen nach Art. 50 EUV unter besonderer Berücksichtigung bestehenden Sekundärrechts, EuR 52 (2017), 581; N. A. Jaekel, Das Recht des Austritts aus der Europäischen Union – zugleich zur Neuregelung des Austrittsrechts gem. Art. 50 EUV in der Fassung des Vertrages von Lissabon, JURA 32 (2010), 87; M. Kotzur/M. Waßmuth, Do you „regrexit“? – Die grundsätzliche Möglichkeit des (unilateralen) Widerrufs einer Austrittserklärung nach Art. 50 EUV, JZ 72 (2017), 489; A. J. Kumin, Vertragsänderungsverfahren und Austrittsklausel, in: W. Hummer/W. Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2009, 301; M. Ludewig, Beendigungstatbestände als notwendige und dynamische Elemente der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen unter besonderer Berücksichtigung von Art. 50 EUV, 2015; B. Mayer/G. Manz, Der Brexit und seine Folgen auf den Rechtsverkehr zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, BB 2016, 1731; W. Michl, Die formellen Voraussetzungen für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, NVwZ 35 (2016), 1365; F. Peykan/M. Hanten/D. Gegusch, Scheiden tut weh: Brexit – die steuerlichen und rechtlichen Folgen, DB 2016, 1526; J. Rinze, Brexit: Austritt, Rücktritt vom Austritt und Verlust von Sonderrechten?, ZIP 2016, 2152; S. Simon, Rechtliche Vorgaben für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, JZ 72 (2017), 481; V. Skouris, Brexit: Rechtliche Vorgaben für den Austritt aus der EU, EuZW 27 (2016), 806; A. Thiele, Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 51 (2016), 281; A. Waltemathe, Austritt aus der EU – Sind die Mitgliedstaaten noch souverän?, 2000; S. Wieduwilt, Article 50 TEU – The Legal Framework of a Withdrawal from the European Union, ZEuS 18 (2015), 169; J. Zeh, Recht auf Austritt, ZEuS 7 (2004), 173.
A › Austritt (aus der EU) (Matthias Knauff) › I. Allgemeines
I. Allgemeines
272
Ausweislich der Präambel des EU-Vertrages ist die (heutige) EU seit den auf unbestimmte Zeit geschlossenen Gründungsverträgen (vgl. Art. 53 EUV, Art. 356 AEUV) dem Ziel einer Integration der Mitgliedstaaten und der „Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ verpflichtet. Vor diesem Hintergrund sowie aufgrund der fehlenden Normierung eines Austrittsrechts im → Primärrecht war bis über die Jahrtausendwende umstritten, ob der Austritt eines Mitgliedstaates aus der EU überhaupt möglich sei. Während einerseits die Befürworter auf die Qualität der EU als Internationale Organisation sowie auf die Souveränität der Mitgliedstaaten verwiesen, führte andererseits die Gegenauffassung die Eigenart der europäischen Integrationsgemeinschaft i.S.e. föderalen Verfasstheit an. Mit dem Entwurf des Vertrages für eine Verfassung für Europa (→ Europäische Union: Geschichte) wurde der Streit zugunsten der Befürworter entschieden, indem erstmals eine Bestimmung über das Austrittsrecht formuliert wurde. Diese wurde schließlich mit dem Vertrag von Lissabon in Art. 50 EUV übernommen. Die Vorschrift regelt abschließend und vorrangig gegenüber dem allgemeinen Völkerrecht die Möglichkeit von Mitgliedstaaten der EU, diese zu verlassen.
273
Allerdings wurde der Frage nach dem Austrittsrecht allgemein nur eine theoretische Bedeutung zugemessen. Während ihrer jahrzehntelangen Entwicklung hatte sich die Frage nach dem möglichen Austritt eines Mitgliedstaates nur ein einziges Mal im Zusammenhang mit einem 1975 in Großbritannien durchgeführten Referendum gestellt, bei dem allerdings eine deutliche Mehrheit zugunsten eines Verbleibs in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) stimmte. Im Übrigen konnten in einigen Mitgliedstaaten (Dänemark, Vereinigtes Königreich, Irland) bestehende Bedenken gegen eine bereichsspezifische Vertiefung der Integration durch primärrechtliche Ausnahmeregeln überwunden werden, so dass diese nicht die Frage nach der Möglichkeit eines Austritts aufwarfen. Gleiches gilt schließlich für eine Anzahl abgebrochener Beitrittsprozesse (Schweiz, Norwegen, Island), bei denen die Entscheidung gegen eine Teilnahme an der EU bereits vor Erlangung der Mitgliedschaft getroffen wurde. Erstmals praktische Bedeutung hat die Frage des EU-Austritts infolge des (rechtlich nicht bindenden und überdies knappen) Brexit-Referendums in Großbritannien im Juni 2016 erlangt, das im März 2017 einen diesbezüglichen Antrag der britischen Regierung zur Folge hatte.
A › Austritt (aus der EU) (Matthias Knauff) › II. Austrittsvoraussetzungen
II. Austrittsvoraussetzungen
274
Gem. Art. 50 Abs. 1 EUV kann jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten. Die Norm fordert somit keine spezifischen Gründe und auch nicht die Benennung der Motive, sondern verweist primär auf den politischen Willen des betreffenden Mitgliedstaates. Dies entspricht den allgemeinen Regeln über die ordentliche Kündigung völkerrechtlicher Verträge, vgl. Art. 54 Buchst. a), 56 WVRK. Allenfalls dem Gebot der loyalen Zusammenarbeit, Art. 4 Abs. 3 EUV (→ Unionstreue), kann nach teilweise vertretener Auffassung entnommen werden, dass die EU sowie die übrigen Mitgliedstaaten vorab unter Berücksichtigung der Gründe zu informieren sind und die Angelegenheit mit ihnen zu diskutieren ist. Um eine durchsetzbare oder gar sanktionierte Rechtspflicht handelt es sich dabei jedoch nicht. Insbesondere wird die Wirksamkeit der Austrittserklärung durch ein anderweitiges Verhalten nicht beeinträchtigt.
275
Undeutlich ist, welche Bedeutung dem Verweis auf die Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorschriften zukommt. Hierdurch könnte die Einhaltung des nationalen Verfassungsrechts in verfahrens- wie materiellrechtlicher Hinsicht zu einem europarechtlichen Erfordernis werden, dessen Beachtung letztlich der Kontrolle durch den → Europäischen Gerichtshof (EuGH) unterliegt. Dies ist jedoch abzulehnen. Eine „Hochzonung“ von Verfassungsfragen des mitgliedstaatlichen Rechts auf die europäische Ebene widerspricht der Ableitung der EU von ihren Mitgliedstaaten als den „Herren der Verträge“ (BVerfGE 123, 267 [349 f., 368, 381, 398] – Lissabon) und stellt deren (europa- wie auch verfassungsrechtlich zumindest vorausgesetzte) Souveränität in Frage (→ Europäische Union: Strukturprinzipien). Ob ein Staat Mitglied einer Internationalen Organisation, mag sie auch in höchstem Maße entwickelt sein wie die EU, werden, sein und bleiben will, ist nicht von dieser und ihren Organen,