Es förderte auch den Handel, indem es europäische Märkte für Kohle, Stahl und andere Rohstoffe schuf. Das führte zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Vorstufe der heutigen Europäischen Union. Auch in Asien gewährten die Vereinigten Staaten Ländern wie Japan, China, der Republik Korea und den Philippinen Hilfe und Kredite. Andernorts weitete die Sowjetunion ihren Einflussbereich aus und förderte ein Wirtschaftsmodell, das auf zentraler Planung und staatlichem Eigentum an der Produktion basierte.
Auch lokale Regierungen, Industrien und Arbeiter spielten eine Rolle beim Wiederaufbau. So übertrug die Zeppelin-Stiftung 1947 fast ihr gesamtes Vermögen an die Stadt Friedrichshafen,5 in der Hoffnung, den Zeppelin-Unternehmen und ihren Arbeitern wieder eine prosperierende Zukunft zu ermöglichen. Zur gleichen Zeit arbeiteten die Friedrichshafener Bürger tagein, tagaus am Wiederaufbau ihrer Häuser. Frauen spielten dabei eine besonders wichtige Rolle, da sie einen großen Teil der ersten Wiederaufbauarbeit leisteten. Das deutsche Magazin Der Spiegel erinnerte sich später: »Da so viele Männer im Krieg gefallen waren, stützten sich die Alliierten bei den schweren Aufräumarbeiten auf Frauen.«6
So wie bei einem Puzzle jedes Teil an die richtige Stelle gesetzt werden muss, damit ein vollständiges Bild entsteht, erforderte die Arbeit des Wiederaufbaus den Einsatz aller Ressourcen und die Mobilisierung aller Arbeitskräfte. Es war eine Aufgabe, die sich die gesamte Gesellschaft zu Herzen nahm. Einer der größten und erfolgreichsten Hersteller in Ravensburg war ein Familienunternehmen, das sich später in Ravensburger umbenannte.7 Es nahm die Produktion von Puzzles und Kinderbüchern wieder auf, ein Geschäft, das bis heute fortgeführt wird. Und in Friedrichshafen kehrte ZF, eine Tochter der Zeppelin-Stiftung, als Hersteller von Autoteilen zurück. Unternehmen wie diese, oft aus dem berühmten deutschen Mittelstand, der das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bildet, spielten eine entscheidende Rolle in der wirtschaftlichen Transformation der Nachkriegszeit.
Die dreißig glorreichen Jahre im Westen
Für viele Menschen in Europa – mich eingeschlossen – wich die Erleichterung über das Ende des Krieges bald der Angst vor einem neuen. Der marktwirtschaftliche Ansatz im von den USA besetzten Westdeutschland und im übrigen Westeuropa kollidierte mit dem planwirtschaftlichen Modell der Sowjetunion, die Ostdeutschland und das übrige Osteuropa kontrollierte. Was würde sich durchsetzen? War eine friedliche Koexistenz möglich, oder musste es zu einem offenen Konflikt kommen? Nur die Zeit würde uns darauf eine Antwort geben.
Zu diesem Zeitpunkt war der Ausgang weder für uns noch für andere klar. Es war ein Kampf der Ideologien, der Wirtschaftssysteme und der geopolitischen Hegemonie. Jahrzehntelang zementierten beide Mächte ihre Positionen und ihre miteinander konkurrierenden Systeme. In Asien, Afrika und Lateinamerika spielte sich der gleiche ideologische Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus ab.
Im Nachhinein wissen wir, dass die von den Vereinigten Staaten geschaffenen Wirtschaftsinstitutionen, die auf Kapitalismus und freien Märkten basieren, Bausteine für eine Ära unvergleichlichen gemeinsamen wirtschaftlichen Wohlstands waren. Kombiniert mit dem Willen vieler Menschen zum Wiederaufbau legten sie den Grundstein für jahrzehntelangen wirtschaftlichen Fortschritt und die wirtschaftliche Dominanz des Westens über den »Rest« der Welt. Auch das sowjetische Modell der zentralen Planwirtschaft trug zunächst Früchte und ermöglichte eine prosperierende Entwicklung, die aber später zusammenbrechen sollte.
Neben den wirtschaftlichen Verschiebungen prägten auch andere Faktoren unsere Neuzeit. In vielen Teilen der Welt, auch in den USA und Europa, gab es einen Babyboom. Die Arbeiter wurden von den unsinnigen Anforderungen der Kriegsproduktion zur gesellschaftlich produktiven Arbeit in Friedenszeiten hingezogen. Bildung und industrielle Tätigkeit expandierten. Auch die Führung durch Regierungschefs wie Konrad Adenauer in Deutschland oder Yoshida Shigeru in Japan war ein entscheidendes Teil des Puzzles. Sie verpflichteten sich und ihre Regierungen, ihre Wirtschaft und Gesellschaft umfassend wieder aufzubauen und starke Beziehungen zu den Alliierten zu entwickeln, die auf einen dauerhaften Frieden abzielten, anstatt dem Streben nach Rache nachzugeben, das nach dem Ersten Weltkrieg vorherrschend war. Angesichts des nationalen Fokus auf den gemeinschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau kam es zu einem Anstieg des gesellschaftlichen Zusammenhalts (den ich in Kapitel 4 näher erläutern werde).
Zwischen 1945 und den frühen 1970er-Jahren führten all diese Faktoren zu dem sogenannten Wirtschaftswunder in Deutschland und dem Rest Europas. Ein ähnlicher Boom setzte in den Vereinigten Staaten, Japan und Südkorea (und anfangs auch in der Sowjetunion) ein. Der Westen trat in sein goldenes Zeitalter des Kapitalismus ein, und die Innovationen der zweiten industriellen Revolution wurden auf breiter Front umgesetzt: Es wurden massenhaft Autobahnen für den PKW- und LKW-Verkehr gebaut, das Zeitalter der kommerziellen Luftfahrt begann und Containerschiffe füllten die Seewege der Welt.
Auch in Schwaben hielten im Zuge des Wirtschaftswunders neue Technologien Einzug. Bei Ravensburger zum Beispiel verdreifachte sich der Umsatz in den 1950er-Jahren und leitete die Phase der industriellen Massenproduktion ein, die 1962 begann. Gesellschaftsspiele wie die »Rheinreise« erfreuten sich bei den heranwachsenden Kindern des Babybooms8 größter Beliebtheit. In den 1960er-Jahren expandierte Ravensburger weiter,9 als das Unternehmen Puzzles in sein Sortiment aufnahm. (Das Logo der Marke, ein blaues Dreieck an der Ecke der Kartonschachteln, wurde zur Ikone.) Etwa zur gleichen Zeit tauchte ZF Friedrichshafen in den 1950er-Jahren wieder als Hersteller für Kfz-Getriebe auf und ergänzte sein Sortiment ab Mitte der 1960er-Jahre um Automatikgetriebe.10 Das Unternehmen verhalf deutschen Automobilherstellern wie BMW, Audi, Mercedes und Porsche in einer Zeit, in der die europäische Autoindustrie boomte, zu einem Aufstieg an die Spitze. (Der Erfolg von ZF hält bis heute an, denn das Unternehmen erzielte 2019 einen weltweiten Umsatz von über 40 Milliarden US-Dollar, beschäftigte weltweit fast 150 000 Mitarbeiter und war in über 40 Ländern der Welt vertreten.)
Betrachtet man die Wirtschaftsindikatoren in den führenden Volkswirtschaften der Welt, so schien es, als ob alle gewinnen würden. Das jährliche Wirtschaftswachstum betrug im Durchschnitt bis zu 5, 6 und sogar 7 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist der Geldwert der in einer bestimmten Volkswirtschaft produzierten Waren und Dienstleistungen. Es wird oft als Maß für die wirtschaftliche Aktivität in einem Land verwendet und verdoppelte, verdreifachte und vervierfachte sich in einigen westlichen Volkswirtschaften in den folgenden ein bis zwei Jahrzehnten. Mehr Menschen besuchten das Gymnasium und fanden Mittelschichtjobs und viele Babyboomer waren die ersten in ihren Familien, die an der Universität studierten und einen Aufstieg auf der sozialen Leiter schafften.
Für Frauen hatte das Erklimmen dieser Leiter eine zusätzliche Dimension. Erst langsam, dann stetig schritt die Emanzipation im Westen voran. Mehr Frauen gingen zur Universität, traten ins Berufsleben ein und blieben dort, und trafen bewusstere Entscheidungen über ihre Work-Life-Balance. Die boomende Wirtschaft bot reichlich Platz für sie, aber sie wurden auch durch Fortschritte in der medizinischen Empfängnisverhütung, die bessere Zugänglichkeit von Haushaltsgeräten und natürlich die Emanzipationsbewegung unterstützt. In den USA zum Beispiel stieg die Erwerbsbeteiligung der Frauen zwischen 1950 und 1970 um 15 Prozent, von etwa 28 auf 43 Prozent.11 In Deutschland stieg der Anteil der Studentinnen an den Hochschulen von 12 Prozent im Jahr 1948 auf 32 Prozent im Jahr 1972.12
Auch bei der Firma Ravensburger traten die Frauen in den Vordergrund. Ab 1952 stand mit Dorothee Hess-Maier, einer Enkelin des Firmengründers, neben ihrem Cousin Otto Julius die erste