sich wiederholenden Bewegungen, die äußerlich, einfallslos und rigide waren, und waren sie weich, dann lasch und passiv. Letztlich beruhten sie auf Drill, auf Zwang, auf Beherrschung; vor allem das Ballett züchtete Körper, die funktionierten wie Marionetten. Der Spitzentanz beruhte auf der Vision eines von der Schwerkraft befreiten Körpers – aber war nicht in Wahrheit der Körper der Schwerkraft anheimgegeben, ihr ebenso überantwortet wie der Luft, die ihn durchatmete und musste nicht neben der Lust zu fliegen erst recht die Lust zu fallen und das eigene Gewicht zu fühlen, in den Tanz eingehen? Wo waren die natürliche Anmut, die Isadora hätte bewundern wollen, wo die edle Einfalt und stille Größe, die der deutsche Archäologe Winckelmann den alten Griechen zuschrieb? Was der Tanz der Gegenwart schuldig blieb, war, fand Isadora, der Fluss, die Zeitlichkeit, das Wissen und Zeigen, dass jede Bewegung einen Grund, eine Quelle, eine Herkunft hat und zu einer neuen Bewegung führt und von da zur Einheit, zur Höhe, zum Wesen, zur zweiten Natur. Was der Tanz zu ihrer Zeit schuldig blieb, war die Einsicht, dass sich überraschende, überwältigende, erhabene Gestalten ergeben, wenn nur der tanzende Mensch seine Seele ganz in den Körperausdruck fließen lässt. »Unter den tausenden von Figuren«, so notiert es Isadora später in ihren Memoiren, »die uns auf den griechischen Vasen und Reliefs überliefert sind, findet sich nicht eine, deren Bewegung nicht bereits eine andere Bewegung voraussetzte. Die Griechen waren eben außerordentliche Beobachter der Natur, in der alles der Ausdruck nie endender, ewig sich steigernder Entwicklung ist, in der es nie ein Ende, nie ein Einhalten gibt.« Einen solchen humanistischen Tanz, der wie eine Meereswelle sich aus sich selbst unentwegt entwickelt, wollte Duncan kreieren und lehren, sie hatte schon bei sich damit begonnen. Auch die Erscheinung der Tänzerin musste sich unbedingt ändern. Die Seidenschläppchen der Ballerinen lehnte Duncan als geziert ab, ebenso den Tüllrock und die Schnürbrust. Sie tanzte barfuß in einem losen Überwurf, ging es ihr doch um die größtmögliche Freiheit auch und gerade des Körpers. In den Londoner Zirkeln und Salons der Bohème und der Aristokratie hatte sie ihre Kunst im privaten Rahmen ein- und vorgeführt und auf Schauspielerinnen, Kunsthistoriker, Mäzeninnen und interessierte Laien tiefen Eindruck gemacht. Die ersten Kritiken waren erschienen, die meisten äußerten sich lobend. Künstler wie Hallé sahen in Isadoras Tanz einen avantgardistischen Ausdruck und feuerten sie an. Sie war, wie es schien, auf einem guten Weg – aber doch noch weit davon entfernt, ihre künstlerischen Ambitionen sozusagen in Großbuchstaben an den Horizont ihres Lebens schreiben zu können. Sie war immer noch eine Suchende, sie zermarterte sich das Hirn: Was ist es, das ich der Welt geben kann, geben muss? Wie kann ich das große Ziel fassen und einfach erläutern? Es genügte ihr nicht, tanzend etwas Neues zu erschaffen, sie musste auch die dazu passende Philosophie entwerfen. »So bin ich nun mal – cérébrale (= intellektuell)!«, sagte sie halb lachend aber doch ernst zu Hallé. Was sie nicht wollte, wusste sie genau. Und ihre Visionen, ihr Ehrgeiz – die gingen noch viel weiter als alles, was sie einstweilen tänzerisch oder mit Worten auszudrücken vermochte. Im Grunde wollte sie die ganze Welt aus Korsetts, Konventionen und starren Formen erlösen, wollte wie der deutsche Philosoph Karl Marx, den sie in London gelesen hatte, »die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zwingen«. Um darüber nachzudenken, war die Weltausstellung in Paris genau der richtige Ort und Charles Hallé der richtige Gesprächspartner. Sie trafen sich täglich und umwanderten nach und nach die gesamte Exposition Universelle.
Hallé war ein Mann in den Fünfzigern, als Maler im Stile der Präraffaeliten erfolgreich und wie die meisten Männer, denen sich Isadora in ihrem Ringen um das Besondere ihrer Kunst anvertraute und mit denen sie eine Art Gesprächsbeziehung (»cérébrale«) begann und durchhielt, von väterlichen Gefühlen für die attraktive Amerikanerin erfüllt. Zugleich aber war er darauf bedacht, ihr klarzumachen, dass nicht alle Männer in der Welt so ritterlich und zurückhaltend waren wie er.
»Das Erotische werden Sie aus Ihrer Tanzdarbietung nie heraushalten können, zumal Sie …«, und er verschluckte ein Kompliment.
»Das will ich ja auch gar nicht. Das Erotische ist das Göttliche, das Dionysische, und natürlich soll es sich vermitteln. Aber nicht in der billigen Version einer Hupfdohle, die Ausschnitt zeigt, damit die Männer in der ersten Reihe einen Geldschein reinstecken. Das wäre mir zutiefst zuwider. Sie verstehen …«
Hallé verstand sie genau, wusste aber auch, wie schwer es sein würde, das Publikum, zumal das männliche, dazu zu bringen, ihre Shows nicht nur wegen der Schönheit der Performerin zu besuchen, denn dieses Mädchen hatte einen wahrhaft vollkommenen Körper und ein Gesicht wie ein Engel. Ihr langer, biegsamer Hals betonte ihre Zartheit, die kräftigen Schenkel ihre Erdverbundenheit. Natürlich kamen die Männer, um dieses Wunderwesen umherspringen zu sehen – und die Frauen auch, wollten sich vielleicht etwas abgucken, diese Gebärde oder jene Frisur. So waren die Menschen nun mal, die meisten nicht zu Höherem berufen.
»Doch!«, beharrte Isadora. »Alle sind zu Höherem berufen. Könnte ich die Welt nur tanzen lehren … Was meinen Sie, Charles, wäre wohl Auguste Rodin bereit, mich persönlich zu empfangen? Können Sie sich das vorstellen?«
Fast hätte Hallé gesagt: ›Aber sicher, meine Liebe‹, doch er biss sich auf die Lippen und murmelte nur:
»Erfreuen Sie sich an seiner Kunst. Der Mann ist ein ziemlich alter Knochen. Älter noch als ich. Und sein Umgang mit Damen –«
Isadora machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Das ist mir egal. In seinen Plastiken erkenne ich alles wieder, was mir lieb und teuer ist – das Schönheitsideal der Griechen, Leidenschaft und Ekstase. Schon beim ersten Anblick seiner Kunst war ich überwältigt. Sagen Sie: Könnte es nicht sein, dass ich für ihn ein interessantes Modell wäre? In einer meiner besten Posen, so etwa …« Und sie reckte die Arme himmelwärts und ließ den Kopf ganz tief in den Nacken fallen.
»Ja, wahrscheinlich«, knurrte Hallé und nestelte an seiner Brieftasche. »Warten Sie, Isadora, ich gebe Ihnen hier die Karte meines Neffen Charles Noufflard. Wenn Sie einverstanden sind, bitte ich ihn, sich Ihrer hier ein wenig anzunehmen. Er heißt Charles wie ich, aber er ist jung und unternehmungslustig. Ich muss demnächst zurück nach London.«
Isadora nahm die Karte und las den Namen mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Freude. Sie hatte es nicht offen zugeben mögen, aber einstweilen war es ihr noch nicht gelungen, in Paris als Künstlerin Fuß zu fassen. Jeder neue Kontakt war wichtig, denn er konnte zu einem Engagement führen. Miss Duncan lebte derzeit, zusammen mit ihrer Mutter, bei ihrem Bruder Raymond – in einem Atelier in der Avenue de Villiers. Wie auch zuvor schon in London wohnten die drei in einem einzigen Raum, der ihnen als Studio und Unterkunft diente, möbliert mit nichts als einem Klavier und drei Matratzen, die tagsüber an die Wand gelehnt wurden, damit Isadora Platz zum Tanzen hatte. Außerdem gab es noch ein paar Kisten mit Büchern, Kleidung, persönlichen Sachen und Isadoras Tuniken. Aufgebrochen war die ganze Familie, der ›Duncan-Clan‹, wie sie sich selber nannten: die Mutter mit Tochter Elizabeth, den Söhnen Augustin und Raymond sowie Nesthäkchen Isadora im Jahre 1895 aus ihrer Heimatstadt San Francisco. Isadora war am 26. Mai 1877 auf die Welt gekommen, achtzehn Jahre war sie alt, als sie Kalifornien verließ. Zunächst ging es nach Chicago und New York und drei Jahre später nach Europa. Was der Clan suchte, war die Kunst: Mutter Dora als Pianistin, Augustin als Schauspieler, Raymond als Rezitator und Performer, Elizabeth als Organisatorin und Isadora auf der Tanzbühne. Sie lebten und arbeiteten quasi als ›fahrendes Volk‹, immer von der Hand in den Mund, wobei Isadora bei Schauspiel- und Musicalproduktionen sowie bei Solo-Auftritten in Salons und auf Kleinkunstbühnen das meiste Geld verdiente. In New York gehörte sie sogar einer renommierten Truppe an, die Operetten, Tanzabende und Shakespeares Komödien herausbrachte, es gab Erfolge. Aber die Gagen waren bescheiden, es war nie etwas übrig geblieben, um einen Fonds anzulegen für knappe Zeiten. Und gerade jetzt wieder wussten die Duncans nicht, wie es weitergehen sollte.
Die Duncans – das waren im Jahre 1900 nur noch die Clanmutter Mrs Duncan, Sohn Raymond und Isadora. Die beiden anderen waren in die Staaten zurückgekehrt, Augustin, weil er drüben ein Mädchen hatte und heiraten wollte, und Elizabeth, weil sie eine Tanzschule führen und Geld verdienen konnte. Aber Isadora kannte keine Angst vor der Armut, und ihre Mutter war nichts anderes gewohnt. Raymond, Hobby-Philosoph und stets bereit, aus einem der Bücher, die er bei sich trug, zu rezitieren,