Ingo Rose

Der blaue Vorhang


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Direktor, »was reden Sie denn da! An unserem Theater treten nur erste Größen auf!«

      »Meinetwegen. Aber ohne mich. Ich tanze nicht zur Unterhaltung von Banausen. Meine Kunst ist für ein erlesenes Publikum gedacht.«

      Der Direktor schob den Unterkiefer vor. Er dachte kurz nach und stieß dann hervor:

      »Tausend?«

      »Ich komme nicht einmal für zehntausend.«

      »Aber Miss Duncan, der Vertrag ist schon fertig. Sie müssen nur hier unterschreiben.«

      Da wurde Isadora böse. Sie scheuchte den Kerl hinaus und schrie dabei:

      »Niemals! Was denken Sie sich! Mon Dieu!« und schlug die Türe zu. In ihren Memoiren erwähnt sie, dass dieser Herr sie zwei Jahre später in der Kroll-Oper zu Berlin tanzen sah und anschließend mit Blumen in ihrer Garderobe erschien. »Sie hatten recht«, hat er zu ihr gesagt, »in mein Varieté hätten Sie nicht gepasst.«

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      Zu jener Zeit machte Isadora die Bekanntschaft einer jungen Amerikanerin, mit der sie ihr Leben lang befreundet bleiben sollte: Mary Desti war sechs Jahre älter als Isadora, bereits geschieden, und einen kleinen Jungen hatte sie auch. Durch schieren Zufall traf Isadoras Mutter in einem Park auf Miss Desti, die dort mit ihrem Sohn Verstecken spielte. Mrs Duncan hörte ihre Muttersprache, sie rief erstaunt: »Hallo!« Was die junge Landsmännin denn hierher nach Paris verschlagen habe? »Ich will mehr als eine Hausfrau in Chicago sein«, antwortete Mary, »ich fühle es: in mir steckt eine Künstlerin.« Da konnte Dora nicht anders. Sie erzählte von ihrer jüngsten Tochter und lud Mary ins Studio ein.

      »Ich habe gehört, dass Sie eine moderne Art der Tanzkunst pflegen«, sagte Mary zu Isadora, »ob ich wohl einmal zusehen darf, wenn Sie proben?«

      »Das können wir gleich haben«, antwortete Isadora erfreut. »Warten Sie, ich bitte meine Mutter um einen Walzer.« Mrs Duncan erschien, sie spielte auf, und Isadora warf sich in die Klänge. Sie drehte sich, sie schwebte im Takt, aber sie war nicht kokett, stattdessen verwegen und ernst. Dann kam ein Nocturne von Chopin, die Tänzerin verwandelte sich, duckte sich, sie suchte etwas und schien zu verschwinden, um dann wie ein Vogel flatternd aufzusteigen. Mary blieb der Mund offen stehen. ›Das ist es‹, sagte sie zu sich, ›das ist Kunst. Schönheit und Größe, sie sind kein Trick und keine Meisterleistung, sie fließen vielmehr von selbst aus der menschlichen Seele, wenn nur ein Weg für den Körper gebahnt ist, auf dem sie sich mitteilen kann.‹

      »Ich möchte Ihre Schülerin sein!«, rief Mary aus. »Bitte lehren Sie mich diese Bewegungen.«

      Isadora musste erst einmal verpusten. Dann nickte sie.

      »Sie möchten reguläre Stunden? Ich bin nicht billig.«

      »Das ist kein Hindernis.«

      »Gut. Kommen Sie morgen um die gleiche Zeit.«

      Mary erwies sich als begabt, und Isadora sah ihre Schülerin fast täglich. Einmal, als sie die Rollen getauscht hatten und Isadora zusah, wie Mary einen Tanz zu einem Hirtengedicht von Theokrit improvisierte – Mrs Duncan trug es mit singender Stimme langsam vor –, rief die Lehrerin scharf:

      »Stopp! So geht das nicht! Mary, Sie kopieren mich. Das dürfen Sie nicht tun, das ist ein Abweg. Ich will hier nicht La Duncan sehen, sondern Mary Desti!«

      »Aber – ich möchte so tanzen wie Sie.«

      »Hören Sie, Mary, wenn Sie so tanzen wollen wie ich, müssen Sie so tanzen, wie Sie – wie nur Sie selbst es können. Stellen Sie sich hierher. Schließen Sie die Augen und führen Sie Ihre Hände auf die Partie unterhalb des Brustbeins, ja, genau so. Dort sitzt der plexus solaris, das Sonnengeflecht, ein wichtiges Nervenzentrum. Von hier aus, von der Mitte kommen alle Gefühle, alle Regungen und Bewegungen. Spüren Sie es? Warten Sie, bis Ihre Mitte antwortet. Dann tun Sie einen Schritt oder einen Griff oder eine leichte Neigung des Kopfes. Beginnen Sie mit der Ruhe. Lassen Sie sich atmen. Horchen Sie in sich hinein. Schauen Sie in sich hinein.«

      »Wenn ich in mich hineinschaue«, sagte Mary mit kleiner Stimme, »sehe ich – Sie!«

      Isadora seufzte. »Kennen Sie den Essay des deutschen Romantikers Heinrich von Kleist ›Über das Marionettentheater‹? Wenn Sie den gelesen haben, werden Sie besser verstehen, worum es mir geht und worum es auch Ihnen als Bewegungskünstlerin gehen sollte. Kopieren ist immer ein Sich-nicht-Trauen und ein Sich-Zieren. ›Denn Ziererei erscheint, wenn sich die Seele in irgendeinem anderen Punkt befindet, als im Schwerpunkt der Bewegung‹, so Kleist. Wir sollten hier abbrechen und noch mal ganz von vorne anfangen. Was meinen Sie, Mary, haben Sie Lust auf einen Imbiss im Bistro an der Ecke?«

      Wenn sie nicht Lehrerin und Schülerin waren, unterhielten sich Mary und Isadora ungezwungen, sie lachten viel und erzählten sich von früher. Isadora war ja auch in Chicago gewesen, und Mary kannte die Etablissements, in denen die 18-jährige Dorita damals aufgetreten war. Und beide konnten einfach drauflosreden, brauchten sich nicht mit der komplizierten französischen Sprache abzumühen.

      »Wo ist der kleine Preston?«, fragte Isadora.

      »Mit seiner Kinderfrau im Bois de Boulogne.«

      »Sie sind well off genug, um eine Nurse zu bezahlen?«, fragte Isadora erstaunt.

      »Oh, ja. Mein Exmann hat nichts getaugt, aber er zahlt.«

      »Er akzeptiert, dass Sie mit dem Kind in Europa herumreisen und er den Kleinen nicht zu Gesicht kriegt?«

      »Er hat nie Interesse an ihm gezeigt«, sagte Mary und kniff die Lippen zusammen, »aber lassen Sie uns das Thema wechseln.« Sie beugte sich vor und lächelte. »Kann es sein, dass ich Ihre erste Schülerin bin?«

      »Oh, nein«, antwortete Isadora, »ich habe in San Francisco schon eine richtige kleine Tanzschule geführt. Hinter unserem Haus gab es einen Schuppen, und dort hat mein Bruder Augustin für uns ein winziges Theater gebaut. Wir gaben Vorführungen für Nachbarn und Freunde. Und die Nachbarskinder kamen zu mir, um tanzen zu lernen. Sie zahlten dreißig Cent pro Nase. So trug ich schon damals zum Familieneinkommen bei.«

      »Was sagten denn Ihre Lehrerinnen dazu?«

      »Gar nichts. Stumpfsinniger Drill, diese Elementarschule. Mit elf Jahren habe ich beschlossen, nicht mehr hinzugehen.«

      Mary staunte. »So früh schon? Aber Sie erscheinen mir doch recht bewandert, zum Beispiel in Kunsttheorie. Und in Musik …«

      »Alles, was ich gelernt habe, verdanke ich meiner Mutter und meinen Geschwistern. Mein Leben als Kind war praktisch laufender Unterricht daheim. Mit zehn lernte ich Deutsch und las Kant – verstehen tat ich ihn erst später, zugegeben. Und mit zwölf schon durfte ich Tanzlehrerin sein. Die Kinder liebten mich, sie kamen gern. Eigentlich wünsche ich mir auch heute wieder eine Schule.«

      »Immerhin haben Sie ja jetzt schon mich als Schülerin. Die Anfänge sind gemacht.«

      »Was bedeutet der Name Desti, Mary? Destination?«

      »Er ist meine Erfindung – haben Sie das geahnt? Eigentlich heiße ich Dempsey. Das klingt nach gar nichts. In Italien gibt es eine Adelsfamilie mit dem Namen d’Este. In dieses vornehme Geschlecht habe ich mich sozusagen seitlich reingeschlichen.«

      »Hm. Meinen Sie wirklich, man wird Mary Desti den italienischen d’Estes zurechnen?«

      »Warum nicht?«

      »Richtig so. Wir Nordamerikanerinnen stammen doch alle aus Europa. Mein Name Duncan ist schottisch, er kommt bei Shakespeare vor. Und was waren die Duncans? Könige! Meine Mutter kommt aus einer irischen Familie, meine Großmutter ist noch in einem Planwagen auf der Reise nach Westen geboren – und zwar mitten in einem Kampf mit den Indianern. Wir alle, meine Brüder, meine Schwester und meine Mutter haben den berüchtigten irischen Dickschädel.«

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      Nun