– an einer gerechten und geschwisterlichen Kirche, die sich offen zeigt gegenüber Vielfalt, Buntheit, Lebensfreude sowie leidenschaftlicher Schöpfungsverantwortung.
Hildegard von Bingen, die umtriebige und willensstarke Äbtissin vom Rupertsberg, kann uns Frauen ermutigen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die kirchlichen Dienste und Ämter mit unserem Frausein zu füllen bzw. zu bereichern. Hildegard, die sich im Großen und Ganzen in die Ordnung ihrer Zeit eingefügt hat, ist es bestimmt nicht immer leichtgefallen, ihre prophetische Stimme zu erheben und sich dann, wenn sie es für notwendig erachtete, den kirchlichen Autoritäten zu widersetzen. Die engagierte Ordensfrau hat sich unerschrocken und kompromisslos für Wahrheit und Gerechtigkeit eingesetzt. Manch schwerer Konflikt – auch mit der Amtskirche – kostete Hildegard viel Kraft und Energie. Die Seherin hat ihr Licht trotz häufiger Krankheitsphasen nie unter einen Scheffel gestellt. Um ihre Mission erfüllen zu können, hat Hildegard nicht lange um Erlaubnis gefragt. Selbstbestimmt und von ihrem Sendungsauftrag überzeugt hat sie sich mehrfach auf den Weg quer durch Deutschland gemacht, um Menschen aufzurütteln, zu trösten, zu mahnen und ihnen Gottes Verheißungen kundzutun – und das auch noch mit über 60 Jahren! Sie ist ihrer inneren Stimme gefolgt und nahm die Bürden mittelalterlichen Reisens bereitwillig auf sich.
Das Bild der Linden im abendlichen Licht fasziniert mich immer noch und lässt Freude und Glück in mir aufkommen. Die Bäume haben erst in den letzten Wochen ihre Blätter und Triebe bekommen – die Natur ist förmlich explodiert. Was für ein Licht- und Naturspektakel! Geistkraft Gottes, Ruach, Lebensfrische, Viriditas …
Aus meiner Begeisterung für Hildegard von Bingen heraus wünsche ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, dass auch Sie aus dem reichen Erfahrungsschatz der vielseitigen Prophetin schöpfen können.
Ursula Klammer
Einleitung
Die Arbeit an diesem Buch fällt in die Zeit der SARS-CoV-2-Pandemie, die – auf den ersten Blick – wie aus heiterem Himmel über die Menschheit hereingebrochen ist. Viele Menschen kämpften förmlich ums nackte Überleben – nicht nur in gesundheitlicher, sondern auch in wirtschaftlicher oder psychosozialer Hinsicht.
Bei vielen Menschen hat die Pandemie Verunsicherung, Trauer und Ängste ausgelöst und es sind neben den Seniorinnen und Senioren vor allem auch Kinder und Jugendliche, die unter den sozialen und psychischen Folgen der Epidemie leiden – u. a. durch die Reduktion bzw. den Wegfall von Kontakten, gewohnter Struktur und körperlicher Nähe.
In dieser Belastungsprobe und Verunsicherung werden – abgesehen von den notwendigen Maßnahmen zur bestmöglichen Alltagsbewältigung – nicht selten existentielle Fragen gestellt, bewusst oder unbewusst. Nach dem Woher und Wohin unseres Lebens, nach Sinn und Orientierung. Befriedigende Antworten und Lösungen wollen gefunden werden und darüber hinaus sinnstiftende Bezüge, um uns in dieser zuweilen als bedrohlich erlebten Welt zurechtzufinden. In einer Krise oder angesichts von Krankheit und Leid wird der Mensch in einem besonderen Maß mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert. Die Werteordnung, die bisher Halt und Orientierung gegeben hat, gerät möglicherweise ins Wanken. Unweigerlich stellt sich die Frage nach dem Sinn von Leiden.
In Zeiten großer Umbrüche und notwendig gewordener Neuausrichtung interessieren sich viele Menschen für Vorbilder, für Biographien beeindruckender, eventuell auch erfolgreicher Frauen und Männer und – damit verbunden – für überzeugende und ansprechende Lebensmodelle. Eine herausragende und schillernde Persönlichkeit, die uns in unserer schwierigen und herausfordernden Zeit richtungsweisende Antworten geben kann, ist die mittelalterliche Äbtissin Hildegard von Bingen mit ihrem ganzheitlichen Blick auf Körper, Geist und Seele.
Wer ist diese erst kürzlich heiliggesprochene Benediktinerin, die mit ihren praxisnahen Lebenskonzepten, mit ihren Schriften und Bildern, ihrer Musik und ihrem offensichtlich unvergänglichen Charme die Bühne unserer Welt von Neuem betreten hat? Welche Verdienste werden ihr zugeschrieben, dass sie Papst Benedikt XVI. am 7. Oktober 2012 zur Kirchenlehrerin erhoben hat? Worin liegt die Besonderheit dieser bis heute unvergessenen Mystikerin und Prophetin des Hochmittelalters?
Das vorliegende Buch will das außergewöhnliche Leben der Hildegard von Bingen und ihr umfangreiches literarisches Erbe kompakt und übersichtlich darstellen, vor allem aber ihre universal gültigen und heute so aktuellen Botschaften für Sie, liebe Leserin, lieber Leser, herausarbeiten. Dabei scheint es mir ein nahezu „menschen-unmögliches“ Unterfangen zu sein, die unerschöpfliche Fülle von Hildegards Gesamtwerk und ihr geistig-spirituelles Erbe in einem Buch von bescheidenem Umfang auch nur annähernd authentisch beschreiben zu können bzw. gebührend zu würdigen.
Hildegard hat mit ihrer Botschaft und all dem, was sie auszeichnet, viele Herzen erobert. Zu Recht kann man in den letzten vier Jahrzehnten von einer Hildegard-Renaissance sprechen. Ob Literatur, Kunst, Musik, Kochkurse, Kräutergärten, Wellness-Angebote …, eine unüberschaubare Fülle an Bezügen zur historischen Person Hildegard von Bingen! Die hochbegabte Äbtissin aus vergangenen Tagen scheint den Nerv unserer Zeit zu treffen. Was ist es, das uns heute empfänglicher denn je macht, einer Prophetin des Hochmittelalters unser Ohr zu leihen? Was sind die Gründe, dass sich so viele Frauen und auch Männer unserer Tage für Hildegards visionäre Berichte und ihre außerordentlichen Lebensumstände interessieren? Was treibt viele Menschen an, mittelalterliche Rezepte bzw. unkonventionelle heilkundliche Anweisungen auszuprobieren? Und ihre einzigartige Musik – was löst sie in uns aus?
Jedes Jahrhundert hat seine besonderen Herausforderungen zu bewältigen, aber im Letzten geht es immer um ähnliche Grundanliegen: Der Mensch sucht nach Möglichkeiten und Perspektiven sinnerfüllter und geglückter Lebensgestaltung. In ihren theologischen und lebenskundlichen Schriften geht die Mystikerin über einen rein privaten Erlösungsgedanken hinaus: Sie plädiert für eine beherzte und engagierte Hinwendung zur Natur, unserer Um- und Mitwelt. Wenn ein Mensch seine Verantwortung anderen und der Schöpfung gegenüber ernst nimmt und seine (religiöse) Bestimmung erkennt, kann er schon im Hier und Jetzt ansatzweise Heil erfahren. „Die ganze Schöpfung steht dem Menschen zur Verfügung“, wird Hildegard nicht müde zu verkünden.
Die mittelalterliche Benediktinerin schaut und beschreibt die großen Zusammenhänge, die uns heute weitgehend verloren gegangen sind. Die Corona-Pandemie hat sie uns in neuer Deutlichkeit vor Augen gestellt. Ein schnelles Ausprobieren von ganzheitlichen Entwürfen kann jedoch nicht weiterhelfen, wenn das zugrunde liegende Gesamtkonzept in seiner spirituellen Ausrichtung vernachlässigt bzw. übergangen wird. Geht es um tiefgreifende Erfahrungen und Lebensthemen sowie um eventuell notwendige Korrekturen von Einstellungen oder Verhaltensweisen, bleibt uns ein längerer, unter Umständen mühsamer Weg nicht erspart.
Das Ineinandergreifen von Körper, Geist und Seele, von Mensch und Schöpfung, wie es Hildegard beschreibt, lässt uns an so manche „Baustelle“ auf unserem Planeten denken, beispielsweise an die vielseitigen und dramatischen Auswirkungen der fortschreitenden Klimaerwärmung auf diverse Ökosysteme. So werden u. a. die globalen Windsysteme bzw. die weltweiten Meeresströmungen nachweislich durcheinandergebracht. Jahrzehntelange Überdüngung und Überfischung sowie die Rodung riesiger Waldflächen wirken sich verheerend auf das ökologische Gleichgewicht auf der Erde bzw. in den Weltmeeren aus. Menschliches Eingreifen in sensible Kreisläufe der Natur zeitigt schwerwiegende Folgen für Fauna und Flora, ja für den gesamten Planeten und nicht zuletzt für den Menschen selbst.
Die globale Klimaerwärmung sowie die ungerechte Verteilung von Gütern sind mitverantwortlich für Hungerkatastrophen in klimatisch und wirtschaftlich benachteiligten Ländern. Kriegerische Auseinandersetzungen bedrohen das Leben tausender Menschen und lösen in vielen Ländern Fluchtbewegungen (Migration) aus. Doch nicht nur in fernen Ländern, auch in Europa stellt sich die Frage, in welcher Weise Grundbedürfnisse wie Sicherheit, angemessene Ernährung, Kleidung, Wohnmöglichkeit sowie medizinische bzw. psychologische Hilfe gewährleistet werden. Auch der grundsätzliche Schutz des Lebens ist und bleibt ein fundamentales und brandaktuelles Thema, gerade auch in der Rechtsprechung. Durch die gigantischen Möglichkeiten und Fortschritte moderner Technik – beispielsweise in der medizinisch unterstützten Fortpflanzungsbiologie – wird die Menschheit