schweigen. Aus ihrer Verunsicherung heraus – anders zu sein als die Menschen ihrer Umgebung – weint sie oft, wie sie in den autobiografischen Fragmenten, die sich in ihrer Vita finden, festhält.
Schon früh wird Hildegard für ein Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit bestimmt. Ob die seherische Begabung ihres jüngsten Kindes die Eltern zu diesem Schritt veranlasst hat oder ob es aus einem damals durchaus üblichen Akt der Dankbarkeit geschieht, dem Schöpfer das 10. Kind als „Zehent“ in besonderer Weise anzuvertrauen, bleibt offen. Jedenfalls wird Hildegard vermutlich schon als 8-jähriges Mädchen in die Obhut einer im Glauben tief verwurzelten Verwandten – Jutta von Sponheim – gegeben. Auf einer abgeschiedenen Burg – so wird heute angenommen – bereiten sich die zwei im Beisein einer frommen und gebildeten Witwe auf ein geistliches Leben vor. Am 1. November 1112 zieht Hildegard – begleitet von ihren Eltern – zusammen mit Jutta und einem anderen Mädchen auf den Disibodenberg im Nahetal, wo sich ein benediktinisches Mönchskloster mit einer angebauten Frauenklause befindet.
Dieser bewaldete Bergvorsprung erhebt sich inmitten einer abwechslungsreichen Flusslandschaft, etwa 80 Kilometer westlich von Mainz. Die geographisch günstige Lage am Zusammenfluss von Nahe und Glan zog wahrscheinlich schon in vorchristlicher Zeit Menschen an, die auf dem Berg ein Heiligtum errichteten. Spätestens seit dem 7. Jahrhundert ist dort ein geistliches Zentrum nachweisbar. So soll sich der irische Wandermönch und Bischof Disibod im 7. Jahrhundert mit drei weiteren Gefährten in der Nähe des Berges niedergelassen haben. Als sich sein Ruf als Wunderheiler verbreitet, wird auf dem Gipfel des Berges, wo der hl. Disibod begraben liegt, eine klosterähnliche Anlage errichtet. Von dem seit Beginn des 11. Jahrhunderts bezeugten Kanonikerstift erfolgt die seelsorgliche Betreuung der umliegenden Siedlungen durch zwölf Kleriker.
Die Klosterruine Disibodenberg, Öl auf Leinwand, Monogrammiert „F“; das Gemälde geht auf eine Lithographie nach einer Zeichnung von Caspar Scheuren zurück, die 1834 veröffentlicht wurde.
Das Kloster beim Grab des hl. Disibod († 700) beherbergte im Laufe seiner wechselvollen Geschichte verschiedene Ordensgemeinschaften. Benediktiner lebten hier von 1108 bis 1259, ihnen folgten Zisterzienser. 1559 wurde das Kloster im Zuge der Reformation aufgelassen, im 18. und 19. Jahrhundert verfielen die Gebäude.
1108 sendet der Mainzer Erzbischof Benediktinermönche auf den Disibodenberg, die noch im selben Jahr mit dem Bau eines neuen Klosters beginnen. Dem Doppelkloster wird eine Frauenklause angebaut. Die bis heute erhaltenen Ruinen zeugen vom gigantischen Ausmaß dieses Bauwerks, an dem bis zu seiner endgültigen Fertigstellung fast 40 Jahre lang gebaut wurde. Diese fast ununterbrochenen Arbeiten an den Klostergebäuden hat die junge Nonne Hildegard seit ihrem Ordenseintritt mitverfolgen können, was ihr später beim Bau von Kloster Rupertsberg sicher zugutegekommen ist.
Nachdem die Benediktinerklöster seit jeher als Zentren der Kunst und Wissenschaft gelten, ist anzunehmen, dass nicht nur den Mönchen, sondern auch den jungen Nonnen eine solide Bildung zuteilwird. Durch ihre Lehrmeisterin Jutta werden sie in die Feier der Liturgie sowie in das Rezitieren von Psalmen eingeführt. Da die liturgischen und biblischen Texte üblicherweise in Latein vorgetragen werden, ist anzunehmen, dass den Schülerinnen im Rahmen ihrer breit gefächerten Ausbildung auch Grundkenntnisse der lateinischen Sprache vermittelt werden. Die Heilige Schrift und die Werke der Kirchenväter zählen zu den Grundlagen geistlicher Beschäftigung und klösterlicher Literatur.
Zwischen 1112 und 1115 legt Hildegard im Beisein von Bischof Otto von Bamberg ihre Ordensgelübde ab. Damit entscheidet sich die junge Novizin bewusst und endgültig für ein klösterliches Leben nach der Regel des hl. Benedikt.
Zusammen mit ihren inzwischen etwa zehn Gefährtinnen bemüht sich Hildegard um geistliches Wachstum. Die Nähe Gottes erfährt sie im Gebet, in der täglichen Feier der Liturgie sowie in den geistlichen Gesängen, die während der Gottesdienste und dem gemeinsamen Gebet vorgetragen oder gesungen werden. Auch die Natur ist für Hildegard eine spirituelle Kraftquelle.
Nach dem Tod Juttas im Jahre 1136 wird Hildegard zur Meisterin, zur neuen Leiterin der Frauenklause gewählt. Sie wird das verantwortungsvolle Amt der Klostervorsteherin bis zu ihrem Tod im Jahre 1179 ausüben, also insgesamt 43 Jahre lang. Dies ist insofern erstaunlich, als Hildegard von Geburt an immer wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat.
Im Jahre 1141, als Hildegard fast 43 Jahre alt ist, vernimmt sie in ihrem Inneren den Auftrag Gottes, die Visionen, die sie seit ihrer frühen Kindheit empfangen hat, niederzuschreiben. Da sie anfänglich aus Unsicherheit und Menschenfurcht zögert, dieser Aufforderung nachzukommen, erkrankt sie schwer. Erst als sie mit Unterstützung eines gelehrten Mönchs mit dem Niederschreiben des Geschauten und Gehörten beginnt, kehren ihre Kräfte und Lebensgeister allmählich zurück. Mönch Volmar, zu dem Hildegard von Anfang an großes Vertrauen hat, soll die Visionsberichte und deren Auslegung, die Hildegard mit ihrem Griffel zunächst in Wachstafeln ritzt, in grammatikalischer Hinsicht korrigieren und auf Pergamentpapier schreiben.
Obwohl Hildegard von Mönch Volmar und von Abt Kuno ermutigt wird, ihre Visionen niederzuschreiben, wird sie immer wieder von Selbstzweifeln und Unsicherheit im Umgang mit ihrer Sehergabe geplagt. In ihrem Bedürfnis nach endgültiger Klarheit wendet sie sich brieflich an eine der damals angesehensten geistlichen Autoritäten: an den Zisterzienser-Mönch Bernhard von Clairvaux. Ihn bittet sie um eine Stellungnahme hinsichtlich der überwältigenden Bilder und Vorgänge, die sich in ihrem Inneren ereignen. Abt Bernhard, selbst Verfasser bedeutender geistlicher Werke, rät Hildegard zum Weiterschreiben an ihren Visionsberichten.
Als Papst Eugen III. von der Seherin auf dem Disibodenberg erfährt, schickt er eine Kommission in das Benediktinerkloster, um die Visionsschriften der bis dahin noch unbekannten Nonne eingehend zu überprüfen. Auf der Synode von Trier (1147/48) liest der Papst unter dem begeisterten Beifall der anwesenden Kleriker Textabschnitte aus Hildegards erstem Buch Scivias (Sci vias domini: Wisse/Erkenne die Wege des Herrn) vor und bestätigt damit offiziell die Echtheit von Hildegards Sehergabe. Mit dieser Anerkennung durch die höchste kirchliche Autorität zeichnet sich ein neuer Lebensabschnitt für die inzwischen 50-jährige Magistra ab. Sie wird zu einer über die heimatlichen Grenzen hinaus bekannten Künderin des Wortes Gottes.
Hildegard als Äbtissin
Bald nach der offiziellen Bestätigung Hildegards als Prophetin und Visionärin durch den Papst steigt auch der Bekanntheitsgrad der Benediktinerabtei auf dem Disibodenberg. Hildegards Ansehen als Vorsteherin der kleinen Frauenklause führt dazu, dass immer mehr Mädchen aus Adelsfamilien um Aufnahme in die klösterliche Gemeinschaft bitten. Die den Frauen zur Verfügung stehenden Klosterzellen reichen jedoch nicht aus, um alle Anwerberinnen aufnehmen zu können. Magistra Hildegard strebt insgeheim wahrscheinlich auch nach Unabhängigkeit vom Männerkloster und so denkt sie an die Gründung eines eigenen Konvents. Sie lässt ihre Umgebung wissen, dass Gott ihr diesen Plan bzw. Auftrag ins Herz gelegt hat. Der Ort für das neue Bauwerk wird Hildegard in einer Vision gezeigt. Auf dem so genannten Rupertsberg, wo die Nahe in den Rhein mündet und wo einst der heilige Rupertus gelebt hat, soll das neue Frauenkloster entstehen.
Die Ruinen des Klosters Disibodenberg heute. In diesem Trakt befand sich das Refektorium. Hildegard war mit Jutta von Sponheim eine der ersten Frauen, die in die ab 1108 errichtete Frauenklause des Benediktinerklosters einzog.
Ihre Mitbrüder, die Benediktinermönche vom Disibodenberg, legen sich allerdings quer: Sie wollen die Nonnen aus verschiedenen Gründen (vor allem wirtschaftlichen) nicht wegziehen lassen. Durch die zunehmende Bekanntheit Hildegards hat das Kloster in Form von großzügigen Schenkungen seitens des Adels profitiert. Diese Zuwendungen würden durch das Wegziehen der Nonnen mit Sicherheit geringer ausfallen. Bevor die Mönche endlich ihre Zustimmung zum Umzug geben, durchlebt Hildegard – mit kräfteraubenden Animositäten der Glaubensbrüder