Michael Dobe

Rote Karte für den Schmerz


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Und man fällt und fällt, aus dem einen entwickelt sich das andere. Angst. Aussichtslosigkeit. Verzweiflung. Man weiß, man sollte nicht so denken, das hilft auch nicht, im Gegenteil. Aber es kommt einfach. Rundrum. Rundrum. Schmerz. Übel. Laut. Hell geht grad. Und man denkt, wenn es nichts gibt, was hilft, was dann? Nicht dran denken. Aber es ist so stark. Übel. Damit kann man, kann ich nicht leben. Angst. Schmerz, Schmerz, Schmerz. Angst ist der wahre Schmerz.«

      Erst eine vernünftige medikamentöse Attackentherapie der Migräne (keine Dauermedikation!), eine Verringerung der Angst vor Schmerzen sowie das Erlernen von Schmerzbewältigungsstrategien führten bei Julia zu einem dauerhaften Erfolg mit nur noch wenigen Migräneattacken im Jahr.

       Warum müssen Ärzte und Psychologen immer so kompliziert reden?

      Jana, 12 Jahre

      Im Folgenden geben wir die Aufzeichnungen über Schmerz und Schmerzgedächtnis des 13-jährigen Jonas ohne Kürzung wieder, um die Zusammenhänge noch etwas eindrücklicher darzustellen.

       Jonas, 13 Jahre

      »Im Hinterkopf befindet sich ein so genanntes Schmerztor, durch das alle Schmerzen geleitet werden. Wenn man wie ich oft und lange Schmerzen hat, wird dieses Schmerztor ausgebaut und reagiert immer empfindlicher auf Schmerzreize. So kann es nach einiger Zeit passieren, dass jemand einen eigentlich leichten Schmerz als furchtbare Qual empfindet, weil die Schmerzgrenze herabgesetzt wurde und die Schmerzempfindlichkeit sehr zunimmt. Außerdem kommt es dazu, dass es im Gehirn eine Art Schmerzgedächtnis gibt, in dem sich das Gehirn das Schmerzsignal merkt und regelmäßig Schmerzen angibt, ohne dass es im Körper noch eine organische Ursache dafür gibt.

      Eine Möglichkeit, das Schmerzgedächtnis in Gang zu setzen, sind Gefühle, die mit dem Schmerzzustand verbunden werden. Wenn man zum Beispiel wie ich sehr lange und starke Schmerzen hatte und niemand weiß, was man dagegen tun kann, fühlt man sich irgendwann sehr hilflos. Dieses Gefühl wird im Gehirn verbunden mit dem Schmerzsignal. Wenn dann später aus egal welchen Gründen ein Gefühl der Hilflosigkeit auftritt, zum Beispiel weil man eine Mathematikhausaufgabe nicht versteht oder nicht weiß, wann der Zug nach Hannover fährt oder so ähnlich, dann ist das Gehirn programmiert auf ›Hilflosigkeit gleich Schmerzsignal‹ und sendet Schmerzen.

      Auf die Idee, diesen Vorgang ›cerebral‹, das heißt im Gehirn, zu untersuchen, kam man, weil man immer wieder die so genannten ›Phantomschmerzen‹ beobachtete. Man beobachtete, dass Patienten, denen zum Beispiel ein Bein abgenommen worden war, starke Schmerzen in diesem nicht mehr vorhandenen Bein hatten und darunter sehr litten. Aber es war ja gar kein Bein mehr da, das weh tun konnte. So begannen die Ärzte, diesen Vorgang zu untersuchen, und sie stellten fest, dass der Schmerzablauf nur noch im Gehirn stattfindet und dort immer wieder neu in Gang gesetzt wird. Ich habe mich öfter an verschiedene Schmerzen erinnert, und prompt hatte ich dieselben Schmerzen wie damals.

      Der Schmerztherapeut hat mir erklärt, dass das dadurch kommt, dass bei den Erinnerungen das Schmerzgedächtnis neu programmiert wird und mir diese Schmerzen wieder vorgaukelt. Außerdem hat er mir erzählt, dass es bei den chronischen Schmerzen einen Teufelkreis gibt. Er funktioniert so, dass man, wenn man Schmerzen hat, selbstverständlich denkt: ›Mensch, sind die Schmerzen doof! Ich habe echt keine Lust mehr da drauf! Die hören ja nie wieder auf!‹ Dadurch steigert man sich selber durch diese ›schwarzen‹ Gedanken in die Schmerzen hinein, und sie werden stärker. Dazu kommt, dass man sich bei Schmerzen in der Regel verspannt, und diese Verspannungen sind zusätzlich unangenehm, und so wird das Schmerztor weiter sensibilisiert für die Wahrnehmung der Schmerzen. Dadurch werden sie wiederum verstärkt, und so beginnt ein unangenehmer Kreislauf.«

      Jonas hatte nach einer Magen-Darm-Grippe noch einmal einen Rückschlag zu verkraften. Die Grippe hatte sein Gehirn vermehrt an die Schmerzen »erinnert« und Jonas bekam wieder Angst davor, dass die Schmerzen nicht wieder weggehen könnten. Er wendete also während der Grippe seine gelernten Antischmerztechniken an, konnte den Schmerz aber natürlich viel weniger beeinflussen als sonst. Dies wertete er als Beweis dafür, dass er wieder hilflos sei und nichts unternehmen könne. Er ging wieder nicht zur Schule und blieb einfach liegen. Da Jonas zum Glück schlau und lernfähig ist und sehr motiviert war, daran etwas zu verändern, konnte man ihm mit wenigen Tipps wiederum helfen. Mittlerweile ist Jonas nahezu schmerzfrei und genießt sein Leben.

      Ach so! Deswegen sind meine Schmerzen stärker,

       wenn ich an die blöde Schule denke!

      Georg, 13 Jahre

      Ein starkes Schmerzsignal führt normalerweise zu einer eher starken Alarmreaktion im Körper, ein schwaches Schmerzsignal normalerweise zu einer schwachen oder zu gar keiner Alarmreaktion. Die Alarmreaktion ist wiederum umso ausgeprägter, je mehr das Schmerzsignal von uns als eine Bedrohung gewertet wird; z. B.: »Aua, hoffentlich habe ich mir jetzt nichts gebrochen, das wäre eine Katastrophe!«, oder: »Schon wieder dieser Rückenschmerz. Und noch schlimmer als sonst, bestimmt ist da in meinem Rücken etwas nicht in Ordnung«.

      Die Alarmreaktion besteht darin, dass das Herz schneller schlägt, Stresshormone ausgeschüttet werden, die Muskelanspannung im Körper steigt und wir schneller atmen. In der Zeit, als wir alle noch Mammuts jagten, hatte eine solche Alarmreaktion einen ganz handfesten, biologischen Sinn: nämlich kurzfristig die Muskeln so sehr anzuspannen, dass man sich entweder zum Kampf stellen oder fliehen konnte. Wir erinnern uns an die sympathischen Jäger Aga und Uga. Der Schmerz, den der Säbelzahntigerbiss verursachte, führte zu einer starken Alarmreaktion (möglicherweise war da natürlich auch etwas Angst mit im Spiel), und dank der nun ungeahnten vereinten Kräfte konnten beide Jäger den Säbelzahntiger besiegen. Welche Bedeutung der Körper dem Schmerz als Alarmsignal beimisst, weiß jeder aus eigener Erfahrung. Berührt man versehentlich etwas Heißes, zuckt man unwillkürlich zurück und merkt erst etwas später bewusst, dass und warum man das getan hat.

      Noch einmal zu Aga und Uga: Nach der Rückkehr ins Lager war die Gefahr gebannt, die Wunde verbunden, und es gab Aussicht auf Heilung. Die Schmerzen waren zwar unangenehm, störten Uga aber nicht sonderlich, da er ja wusste, dass sie wieder vergehen würden. Er bewertete die Schmerzen also nicht mehr als Ausdruck einer Bedrohung. So gab es keinen Anlass mehr für eine Alarmreaktion, und sein Körper konnte wieder zur Ruhe kommen.

      All das läuft automatisch und meist unbewusst bzw. unwillkürlich ab. In abgeschwächter Form erleben wir solche Alarmreaktionen sogar mehrmals täglich. Das ist kein Problem und trägt zum so genannten positiven Stress bei, den z. B. ein Schüler benötigt, um eine Klassenarbeit zu schreiben.

      Ein Sonderfall tritt ein, wenn Eltern von Kindern mit Schmerzen mitleiden – und zwar wortwörtlich. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Schmerznetzwerk eines Elternteils (in der Untersuchung waren es – wie so oft – die Mütter), der sieht, dass sein Kind unter Schmerzen leidet, ebenfalls aktiviert wird. Bei Eltern, deren Kinder unter chronischen Schmerzen litten, war dieser Umstand noch ausgeprägter. Das bedeutet, dass Eltern ebenfalls leiden und körperlich gestresst sind – genau wie ihre Kinder. Dies ist zunächst einmal keine »hysterische Überreaktion«, sondern einfach Ausdruck Ihrer Liebe zu Ihrem Kind.

      Nun weiß man allerdings, dass eine lang anhaltende Stress-oder Alarmreaktion gern »alte Wunden aufbrechen« lässt. Man wird an eigene belastende Lebensereignisse erinnert, die vielleicht ebenfalls mit Schmerz zusammenhängen. Die allgemeine Grundstimmung sinkt, man wird gereizter. Hinzu kommt die Hilflosigkeit, der man als Mutter oder Vater eines leidenden Kindes ausgeliefert ist, ohne ihm seine Schmerzen nehmen zu können. Manche Eltern fragen sich dann, ob nicht doch psychische Faktoren vorliegen und sie irgendetwas falsch gemacht haben oder ihr Kind über etwas Belastendes nicht reden möchte.

      Die