Michael Dobe

Rote Karte für den Schmerz


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häufig kommen oder zum Dauerschmerz werden, wird das Leben für sehr viele Kinder und Jugendliche zur Qual. Und weil die Kinder leiden, leiden auch die Eltern. Dieses Buch soll eine Hilfe sein, trotz des Schmerzes zu einem normalen Alltag zurückzufinden, einem Alltag, in dem Lachen und das Denken an eine positive Zukunft wieder Platz haben.

      Viele der in diesem Buch beschriebenen Tricks und Verhaltensweisen sind sehr einfach und erfordern nur ein wenig Mut und Geduld, aber keine aufwändigen Hilfsmittel oder Instrumente – ganz im Gegensatz zu den vielen Untersuchungen, Diagnosen, möglichen (und unmöglichen) Therapiemaßnahmen, denen wohl viele von Euch und Ihnen schon begegnet sind. Wie oft müssen sich Betroffene dazu noch ebenso gut gemeinte wie deplatzierte Ratschläge anhören wie »Das Kind trinkt doch zu wenig« oder »Der Junge simuliert und will einfach nicht zur Schule gehen«. Außerdem quälen sich viele von Ihnen, liebe Eltern, mit immer wiederkehrenden Selbstvorwürfen: »Ist nicht doch etwas übersehen worden? Was, wenn ich meinem Kind Unrecht tue? Was habe ich nur falsch gemacht? Wenn nichts Körperliches vorliegt, wie kann die Ursache dann psychisch sein – meinem Kind ging es doch gut? Oder etwa nicht?« Die Folgen sind – Sie werden es bereits erfahren haben – Verunsicherung, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Der Schmerz nimmt einen immer größeren Raum im Denken und Fühlen ein und scheint sich in der Familie auszubreiten, fast wie ein neues Familienmitglied.

      Obwohl chronischer Schmerz immer besser erforscht und auch verstanden wird, findet er leider bislang noch sehr wenig Berücksichtigung in der Ausbildung von Ärzten, Psychologen, Krankengymnasten, Heilpraktikern und sonstigen Therapeuten. Allzu oft wird chronischer Schmerz im Sinne von »Da stimmt etwas nicht« oder »Etwas ist im Ungleichgewicht, und das muss behoben werden!« verstanden. Schlimmer noch: Je nachdem, wen Sie mit Ihrem Problem ansprechen, bekommen Sie ganz unterschiedliche Diagnosen und Therapieempfehlungen zu hören. Das Verständnis von chronischem Schmerz als eigenständiger Schmerzerkrankung, bei welcher eine einzelne körperliche oder eine einzelne psychische Ursache nicht existiert, ist noch eher selten. Der Leidensweg eines zwölfjährigen Mädchens mit fortwährenden Bauchschmerzen soll dies verdeutlichen.

       Paula, 12 Jahre

      Seit vier Jahren klagte Paula immer häufiger über Bauchschmerzen, in letzter Zeit nahezu ständig. Paula war von einem lebenslustigen Kind zu einem stillen, ernst und manchmal leidend wirkenden, zurückgezogenen Mädchen geworden, das immer häufiger in der Schule fehlte. In ihrer zunehmenden Hilflosigkeit stellten die Eltern Paula in drei verschiedenen Krankenhäusern zur Untersuchung vor. Das Kind erhielt anschließend ambulant verschiedenste Schmerzmittel, eine homöopathische Behandlung, eine Akupunkturbehandlung, Antibiotika gegen eine diagnostizierte Magenschleimhautinfektion, verschiedene Psychotherapien und Unterweisung in Entspannungstechniken. Häufig wurde den Eltern und dem Kind gesagt, dass die Ursache nun gefunden sei. Mal war dies eine körperliche, mal eine psychische Ursache, je nachdem, welchen Beruf der angefragte Therapeut ausübte. Manchmal zeigte sich auch eine über wenige Tage anhaltende Besserung, die aber rasch wieder nachließ.

      Wegen Kindern wie Paula haben wir uns entschlossen, dieses Buch zu schreiben, um Ihnen, den betroffenen Familien, auf der Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und unserer eigenen Erfahrungen im Rahmen der ambulanten und stationären Kinderschmerztherapie eine erste Orientierung anzubieten.

      Eine Bitte liegt uns am Herzen: Auch wenn viele von Ihnen durch Behandlungsmisserfolge wiederholt enttäuscht wurden oder möglicherweise den Glauben an eine Besserung der Situation schon ganz verloren haben – vermeiden Sie eine reine Selbstbehandlung. Besprechen Sie stattdessen Ihr Vorgehen mit dem Arzt oder Therapeuten Ihres Vertrauens. Er ist derjenige, der Sie an eine auf Schmerz spezialisierte Ambulanz oder Station überweisen muss, wenn die im Buch beschriebenen Verhaltensmaßnahmen und Tricks allein nicht mehr ausreichen. Leider passiert es immer wieder, dass dies der eine oder andere Arzt aus Mangel an Kenntnissen nicht tut. Wenden Sie sich dann an eine der im Anhang des Buches aufgeführten Adressen; von dort aus wird man Kontakt mit Ihrem Kinder- oder Hausarzt aufnehmen.

      Wir wünschen Ihnen auf dem Weg zu weniger Schmerz und mehr Leben viel Kraft und den Mut, die in diesem Buch aufgeführten Ratschläge in Ihrem Alltag umzusetzen.

       Dr. rer. medic. Michael Dobe und Prof. Dr. med. Boris Zernikow

       Datteln, den 31. Mai 2012

      Was ist Schmerz?

      Klar weiß ich, was Schmerzen sind.

       Sonst wäre ich wohl kaum hier auf der Station!

      Sarah, 16 Jahre

      In diesem Kapitel gehen wir darauf ein, dass Schmerzen zum einen ein Warnsignal darstellen können (akuter Schmerz); zum anderen gibt es jedoch Schmerzen, die diese Warnfunktion verloren haben (chronischer Schmerz). Anschließend erklären wir, wie es dazu kommt, dass ein Schmerz chronisch wird. Begriffe wie »Schmerzsensibilisierung« und »Schmerzgedächtnis« werden erläutert. Einige erklärende Hinweise darauf, wie Schmerzen im Gehirn verarbeitet werden, sowie viele Beispiele runden das Kapitel ab.

       Autsch, blöder Tisch!

      Julian, 8 Jahre

      Jeder hat in seinem Leben schon Erfahrungen mit Schmerzen gesammelt. In den meisten Fällen ist der Schmerz vorübergehender Natur und tritt im Rahmen einer Prellung, Verletzung oder Entzündung auf. Solche Schmerzen nennt man übrigens »akut«: Der Schmerzauslöser ist hier also eine äußere oder innere Schädigung des Körpers.

      Unser Gehirn ist dafür zuständig, dass wir bei einer Verletzung oder Erkrankung Schmerz empfinden. Verbrennt man sich die Hand auf einer heißen Herdplatte, wird das Verletzungssignal über die Nerven der Hand zum Rückenmark und von dort zum Gehirn weitergeleitet. Unser Gehirn versucht nun, das eintreffende Signal in das bewusste Wahrnehmen zu »übersetzen«.

      Damit unser Gehirn den genauen Schmerzort bestimmen kann, hat es eine Art »Schmerzzentrum« ausgebildet, das unseren gesamten Körper wie eine Landkarte abbildet. Dieser Teil des Gehirns wird auch somato-sensorischer Kortex genannt. Er ist mit einem ganzen Netzwerk von verschiedenen Bereichen des Gehirns verbunden und selbst in viele kleine Bereiche unterteilt. Jeder Teilbereich in diesem Schmerzzentrum steht in Verbindung mit einem Teil unseres Körpers. Je wichtiger ein Körperteil für unseren Alltag ist und je komplexer die Aufgaben sind, die wir mit ihm erledigen, desto größer ist auch der Platz, den dieser Körperteil auf der »Landkarte« im Gehirn erhält. So wird ein Schmerzsignal von der Hand in denjenigen Teil des Schmerzzentrums geleitet, der für die Hand zuständig ist. Zusammen mit anderen Gehirnregionen löst der zuständige Teil des Schmerzzentrums dann das Schmerzgefühl und das Zurückziehen der Hand aus. Das wird über motorische Reflexe des Rückenmarks vermittelt, oft noch bevor unser Bewusstsein den Schmerz richtig realisiert hat.

      Viele Kinder wünschen sich, dass ihre Schmerzen für immer verschwinden und sie überhaupt keine Schmerzen mehr fühlen müssen. Das wäre aber sehr ungünstig. Man würde sich z. B. mit einem Messer schneiden, es gar nicht merken und sich womöglich noch mehr verletzen. Oder mit einem verletzten Bein weiter Fußball spielen. Um uns davor zu schützen, gibt es den Schmerz. Er weist uns darauf hin, dass etwas nicht stimmt und wir besser überprüfen sollten, was genau die Ursache für den Schmerz ist. Auch bei unserem Herdplatten-Beispiel hat der Schmerz eine klare Warn- und Schutzfunktion. Er sagt uns: »Zieh die Hand von der Herdplatte weg, sonst fügst du dir schwere Schäden zu.«

      Damit wir die Möglichkeit haben, der Ursache schnell auf den Grund zu gehen, sollten wir sehr genau bestimmen, wo und wie stark es wehtut. Normalerweise stellt sich dann bald heraus, dass die von uns wahrgenommene Schmerzstärke gut zu der Schmerzursache passt. So tut z. B. ein kleiner Nadelstich weniger weh als ein Tritt gegen das Schienbein. Zudem weiß die soziale Umgebung (also etwa Eltern, Verwandte, Freunde, Lehrer) in der Regel sehr genau, wie man am besten auf den Schmerz reagiert. Ein Beispiel aus der Zeit, als wir noch alle Jäger und Sammler waren und in Höhlen gelebt haben, soll dies verdeutlichen.

      Der